Die Geburt Europas im Mittelalter
Zeit des Abstiegs der Werte vom Himmel auf die Erde definieren. Denn die lateinische Christenheit hat im Umgang mit der Herausforderung, die der große Aufschwung für die traditionellen Werte des frühen Mittelalters bedeutete, unter verschiedenen kulturellen Lösungsmöglichkeiten die Bekehrung zur irdischen Welt gewählt – eine Umkehr innerhalb der Grenzen des christlichen Glaubens und ohne die Lehre von der Verachtung der Welt,
contemptus mundi
, die noch lange bestehen sollte, vollständig zu eliminieren. Der Umbruch der Werte kündigte sich dadurch an, dass sich die Neuerungen nur unter dem Deckmantel des Respekts vor den antiken, heidnischen oder christlichen Traditionen hatten entwickeln können. Ich erinnere an den sinnbildlichen Ausspruch des Bernhard von Chartres: «Wir sind Zwerge, die auf die Schultern von Riesen gestiegen sind.» Der erste Wandel im Wertesystem des 13. Jahrhunderts trat ein, als die traditionelle Verdammung alles Neuen aufgegeben wurde. Die
Vita
des hl. Dominikus aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts beispielsweise rühmt in Dominikus den
neuen
Menschen und in seinem Orden, dem der Prediger, einen
neuen
Orden. Gewiss, auch im frühen Mittelalter hatten die Menschen für das Leben auf Erden gearbeitet, für die irdische Macht gekämpft, aber die Werte, in derenNamen sie es taten, waren übernatürliche Werte: Gott, der Gottesstaat, das Paradies, die Ewigkeit, die Verachtung der Welt, die Bekehrung, das Beispiel des vor Gott zermalmten Menschen Hiob. Der kulturelle, ideologische und existenzielle Horizont, auf den die Menschen blickten, war der Himmel.
Vom 13. Jahrhundert an sind die Christen immer noch zutiefst um ihr Seelenheil besorgt, aber sie erlangen dieses Heil durch ein doppeltes Engagement, auf Erden wie im Himmel. Zugleich kommen legitime und heilbringende irdische Werte auf, etwa durch die Wandlung des negativen Werts der als Buße verstandenen Arbeit in eine positive Mitwirkung am schöpferischen Werk Gottes. Die Werte steigen vom Himmel auf die Erde hinab. Innovationen, technische und intellektuelle Fortschritte sind keine Sünde mehr, die paradiesischen Freuden und Schönheiten dürfen ansatzweise schon im Diesseits genossen werden. Der Mensch wird daran erinnert, dass er, geschaffen nach dem Bild Gottes, auf Erden die Voraussetzungen für sein Seelenheil nicht nur im negativen, sondern auch im positiven Sinne beeinflussen kann. Es wird betont, dass Jesus bei seinem Abstieg ins Reich des Todes auch Adam und Eva aus der Vorhölle befreit hat. Die Geschichte ist kein Niedergang mehr, dem Ende der Welt entgegen, sondern ein Aufstieg zur Vollendung der Zeiten. Während das joachimitische Gedankengut nur einer Minderheit endzeitliche Gefühle einflößt, vermittelt es der Mehrheit einen positiven Sinn von der Geschichte. Zu diesem Wertewandel gehört auch, dass neben die alten geistigen Autoritäten, die
authentica
, im universitären Bereich in Gestalt der Magister neue treten, die
magistralia
.
Im ökonomischen Bereich bildet sich eine Vorstellung vom Wachstum – der Fortschrittsgedanke im eigentlichen Sinne kommt erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf. Die intensivere Nutzung der Mühlen, ihre Weiterentwicklung zu Hammermühlen, Wassermühlen, Malz- oder Walkmühlen usw., die Einführung des horizontalen Trittwebstuhls, der den senkrechten Webstuhl ersetzt, die Erfindung der Nockenwelle zur Umwandlung linearer in alternierende Bewegungen lassen einen neuen Wert erkennen, die Produktivität. Wie himmlisches Manna kommt der Überfluss vom Himmel auf die Erde herab. In der Landwirtschaft ist überall, wo der Boden, das Klimaund die agrarische Organisation es erlauben, eine langsame Umstellung von der Zwei- auf die Dreifelderwirtschaft in Gang gekommen. Durch diese Form der Bewirtschaftung, die einen jahreszeitlichen Wechsel der Kulturen erlaubt (Frühjahrsgetreide und Herbstgetreide, so genannte Zwischenfrüchte), wird die nutzbare Anbaufläche etwa um das Sechsfache erweitert. So tauchen auch hier die Werte des Wachstums und der Ertragssteigerung auf. Die Agrarwissenschaft wird – wie am Ende der Antike – wieder für würdig befunden, in Handbüchern behandelt zu werden. Ein Beispiel ist das
Husbandry
des Engländers Walter of Henley, ein anderes das
Ruralium commodorum opus
von Petrus de Crescentiis, das König Karl V. von Frankreich um die Mitte des 14. Jahrhunderts ins Französische übersetzen ließ. Auch wenn man diese Wandlungen nicht überschätzen
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