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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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der Plastik einen wirkungsvollen Raum, insbesondere den Darstellungen des Jüngsten Gerichts, dessen Anblick ebenso viel Angst wie Hoffnung weckte und so ein Gleichgewicht zum vertikalen Aufschwung und der Lichtdurchflutung schuf.
    Das Europa der farbigen Kirchenfenster zeigte sich in seiner ganzen Pracht an der Kathedrale von Chartres, deren Blautöne bis heute berühmt sind. Die großen französischen Sakralbauten wurden im Ausland oft nachgeahmt, teils im üblichen Stil, mit drei Schiffen, teils aber auch fünfschiffig wie in Bourges. Die schönsten Kopien erheben sich in Spanien, vor allem in Burgos, aber auch in Toledo oder León. In England verbreitete sich von der Normandie aus eine Sonderform der Gotik, einer der ersten Ausdrücke dessen, was im 14. und 15. Jahrhundert Flamboyant-Stil genannt werden sollte. In Italien steckte die gotische Kunst gewissermaßen in der Klemme zwischen der noch andauernden Romanik und einer frühen Renaissance. Die Gotik wurde dort vor allem – aber auch nur begrenzt – von den Bettelorden verbreitet, so etwa in Assisi. Im deutschen Bereich und vor allem im Hansegebiet entstanden unter dem Einfluss der Kaufleute als Sonderform die gotischen Hallenkirchen.
    Der Kunsthistoriker Roland Recht hat die lange, bis heute währende Tradition der Gotik in Europa in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France (14. März 2002) hervorgehoben. Ich zitiere: «Bei aufmerksamer Betrachtung stellen wir fest, dass viele der herausragenden Schöpfungen des 20. Jahrhunderts ein ganzes Bündel von Errungenschaften aufgreifen, bereichernund aktualisieren, die zwischen 1140 und 1350 im Nordwesten Europas gemacht worden sind. Ihnen haben Architekten wie Poelzig, Bruno Taut, Mies van der Rohe, Gropius, Niemeyer, Gaudí, aber auch Nervi, Gaudin oder Gehry einen großen Teil ihrer Baukunst zu verdanken. Die Architektur der Moderne hat sich durch ihre Befreiung vom klassischen Ideal zugleich die Möglichkeit verschafft, Inspirationen für das zu gewinnen, was dieses Ideal verhindert hat: die statische und ästhetische Neudefinition der Wand, die Einführung selbsttragender Konstruktionen, die Verwendung vorgefertigter, standardisierter Elemente und, sicher vor allem: eine klare, durch die Form vermittelte Lesbarkeit der Funktion.» Ein Abstecher zu den verschiedenen Formen der gotischen Kunst würde hier zu weit führen. Aber vergessen wir nicht, dass das gotische Europa des 13. Jahrhunderts nicht nur ein Europa der Baukunst war, sondern auch der Plastik, der Domportale, der Kathedralen mit ihrem Innenschmuck, den zahllosen Reliefs – wie auf der berühmten Kanzel in Pisa –, den Statuen von Engeln, Jungfrauen und Prinzessinnen, den Malereien, Fresken und Miniaturen. Das gotische 13. Jahrhundert hat das Europa der
Bilder
wunderbar bereichert.
Das höfische Europa
    Das 13. Jahrhundert hat auch ein Europa der guten Manieren hervorgebracht, die von modernen Historikern oder Soziologen als Zivilisation bezeichnet werden, während die zeitgenössischen Christen von höfischen Sitten sprachen. Später sollten auch die Wörter «Urbanität» und «Höflichkeit», die auf einen städtischen Raum verweisen, für diese Verfeinerung der Gefühle und Umgangsformen gebraucht werden. Die erste umfassende Studie dazu hat 1939 der deutsche Soziologe Norbert Elias in seinem innovativen Werk
Über den Prozess der Zivilisation
vorgelegt. Schon die Etymologie des im Mittelalter gebräuchlichen Ausdrucks «
courtoisie
» weist darauf hin, dass die Wandlung der Verhaltensweisen, die sich besonders im 13. Jahrhundert bemerkbar machte, zwei soziale Ursprünge hatte, den Hof und die Stadt. Aus der Annäherung von adligen und bürgerlichen Sitten gingen im 12. und 13. Jahrhundertlateinische oder volkssprachliche Handbücher des höfischen Benehmens hervor, so etwa die Werke
Liber urbani
und
Facetus
in England,
Der wälsche Gast
des Thomasin von Zirklaria und Tannhäusers
Hofzucht
in Deutschland oder die fünfzig
Curtesien
des mailändischen Pädagogen Bonvesin de la Riva. Die Ratschläge, die in diesen Schriften gegeben werden, beziehen sich vor allem auf die Tischsitten, die natürlichen Bedürfnisse, die sexuellen Beziehungen und die Unterdrückung der Aggressivität. Bei Bonvesin liest man beispielsweise:
    «Aus der Suppenschüssel schlürft man nicht,
sondern nimmt den Löffel, das ist geziemlicher.
Wer sich über die Schüssel beugt
und unsäuberlich sabbert, wie ein Schwein,
soll eher beim andern Viehe

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