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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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darf, sind sie ein Zeichen für die Hinwendung zum Irdischen.
    Der Begriff der schändlichen Gewinne,
turpe lucrum
, der die Entwicklung der Geld- und Zinsgeschäfte behindert, wird mehr und mehr verdrängt, wobei die argumentative Schützenhilfe vor allem von den Bettelorden kommt. Wie wir gesehen haben, rechtfertigen sie in zunehmendem Maße die Aktivitäten der Kaufleute, die immer mehr Menschen jene Güter zugänglich machen, die der Himmel zunächst nur wenigen in einem anderen Teil der Welt überlassen hatte. Bei der Verbreitung der neuen Werte wurde verstärkt an die
ratio
appelliert, sowohl im Sinne der Vernunft als auch im Sinne der Berechnung. Die Rationalisierung der landwirtschaftlichen Nutzflächen und der Methoden, Abgaben einzutreiben, hatte 1085 zu dem erstaunlichen, seiner Zeit weit vorauseilenden Unternehmen des neuen normannischen Königs von England, Wilhelms des Eroberers, geführt, ein komplettes Verzeichnis der Besitzungen und Einkünfte der Krone anzulegen. Der Titel, unter dem diese Bestandsaufnahme bekannt geworden und in die Geschichte eingegangen ist, lautet
Domesday Book
oder
Buch des Jüngsten Gerichts
. Einen besseren Ausdruck für das, was ich mit der Übertragung vom Himmel auf die Erde meine, hätte es nicht geben können. Der Graf von Flandern schloss sich dieser Linie an: 1187 ließ er seine Einkünfte im «Großen Brief» von Flandern schätzen und beziffern. Der französische König Philipp II.August ließ regelmäßig den Stand der Einnahmen aus seiner Krondomäne aufschreiben; ein Fragment dieser Aufzeichnungen für die Jahre 1202 und 1203 ist uns erhalten. Selbst wenn die Wirklichkeit bescheidener aussah, kann man sagen, dass damit ein Europa der Haushaltspläne entstanden war. Wie Alexander Murray gezeigt hat, wurden die Menschen im Abendland um die gleiche Zeit, um 1200, von einer regelrechten «Rechenmanie» befallen. Alles wurde gezählt, alles berechnet, sogar die Jahre im Fegefeuer. Jacques Chiffoleau hat in diesem Zusammenhang das schöne Wort «Buchführung des Jenseits» geprägt.
    Die Menschen des 13. Jahrhunderts, Männer wie Frauen, Kleriker und Laien, maßen sich an, in den Bereich Gottes einzugreifen. Der Wille, die Zeit des Alltagslebens besser zu beherrschen, führte dazu, dass es am Ende des 13. Jahrhunderts in ganz Europa mechanische Uhren gab. Die Universitäten nahmen einen Teil des Wissens, das zu vergeben Gott sich vorbehalten hatte, für ihre Lehrstühle in Anspruch. Auch das Wissen um Gott selbst wurde zu einem menschlichen Wissen. Abaelard hatte im 12. Jahrhundert das Wort «Theologie» erfunden, und Pater Chenu hat gezeigt, wie die Theologie im 13. Jahrhundert eine Wissenschaft wurde. Schließlich erlaubte die Geburt des Fegefeuers gegen Ende des 12. Jahrhunderts der Kirche und den Menschen, Gott einen Teil seiner Macht über die Toten zu entwenden, indem sie ein System der menschlichen
Fürbitte
zur Befreiung der Seelen aus dem Purgatorium errichteten. Das intellektuelle und mentale Werkzeug entwickelte sich und gab den Menschen Instrumente des Wissens an die Hand, um ihre Herrschaft auszudehnen. Das Buch wurde zum Handbuch, es war nicht mehr nur Kunstobjekt oder Gegenstand der Frömmigkeit. Die Schrift zog in die Welt der Kaufleute und der Juristen ein; indem sie in den Schulen unterrichtet wurde, verlor sie ihren sakralen Charakter oder, besser gesagt, sie schrieb ihre himmlische Macht in die Erde ein. Der Körper wurde zum Gegenstand der Pflege, aber auch der Unterdrückung. Am Ende des 13. Jahrhunderts verbot Papst Bonifatius VIII. die Zerlegung der Leichen, wie sie dem Körper Ludwigs des Heiligen noch 1270 zuteil geworden war. Die Schlemmerei, die lange Zeit als eine sehr schwere, eng mit derWollust verbundene Sünde erachtet wurde, fand ihre Rechtfertigung in der verfeinerten Ernährung und den Fortschritten der Kochkünste. Das älteste uns bekannte mittelalterliche Kochbuch soll der polnischen Historikerin Maria Dembinska zufolge um 1200 für den dänischen Erzbischof Absalon geschrieben worden sein, der vermutlich einen französischen Koch hatte. Am Ende des 13. Jahrhunderts war ein Europa der Gastronomie geboren.
    Unter dem Einfluss des monastischen Rigorismus war das Lachen im frühen Mittelalter streng verurteilt worden. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurde es ein Charakteristikum der Spiritualität des hl. Franziskus und der ersten Franziskaner. Allgemein bestand nun die Tendenz, das Hinscheiden des menschlichen Körpers,

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