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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ausübten. Die Bezeichnung Dritter Orden rührt daher, dass sich die Bettelorden nach dem Willen ihrer Gründer in drei Zweige gliederten: den männlichen Zweig oder Ersten Orden, den weiblichen Zweig oder Zweiten Orden – bei den Franziskanern die Klarissen, bei den Dominikanern die Dominikanerinnen – sowie einen Dritten Orden für Laien, der den Einfluss auf die städtische Gesellschaft beträchtlich erweiterte. Mit den drei Orden war im Grunde die ganze Stadtgesellschaft abgedeckt. Aber die dominierende Position blieb stets in der Hand der Ersten Orden, der Brüder, der Männer, und in der des Papsttums. Eben diese Orden konnten sich auf Dauer der Klerikalisierung nicht entziehen. Wie Pater Thierry Desbonnets am Beispiel der Franziskaner gezeigt hat, gingen die Bettelorden sehr schnell «von der Intuition zur Institution» über. Trotz aller Fortschritte der Laien als Mitgliedern der Kirche gelang es im 13. Jahrhundert nicht, ein Europa der Laien zu schaffen.
Das gotische Europa
    Das 13. Jahrhundert war eine große Zeit der künstlerischen Blüte, vor allem im Bereich der Architektur. Die Kunst und insbesondere die Architektur haben der europäischen Einheit sehr wirkungsvoll Ausdruck und Zusammenhalt verliehen. Die mittelalterlichen Literaturen blieben einander trotz aller Gemeinsamkeiten wegen der vielfältigen Sprachen fremd; die Sprache der Kunst war fast überall die gleiche. Schon der romanischeStil, der, wie sein Name sagt, auf die Kunst der römischen Antike zurückgreift, hatte sich in einem großen Teil Europas verbreitet, allerdings mit wesentlichen Eigenheiten je nach Völkern und Regionen. Dagegen überschwemmte die gotische Kunst, auch «französische Kunst» genannt, das gesamte christliche Europa, ausgehend von Nordfrankreich, besonders dem Kernland dieser Region, das im 13. Jahrhundert das «eigentliche Frankreich» und später Ile-de-France hieß. Diese neue, von der Romanik sehr verschiedene Kunst entsprach zugleich einem starken Bevölkerungswachstum, das größere Kirchen verlangte, und einem tief greifenden Wandel des zeitgenössischen Geschmacks. Außer den weiteren räumlichen Dimensionen tritt in der Gotik die Anziehungskraft des Vertikalen, Emporsteigenden, des Lichts und sogar der Farbe hervor.
    Die großen Städte – denn im Unterschied zur Romanik war die Gotik eine sehr urbane Kunst – lieferten sich einen Wettstreit um die Errichtung der kühnsten und schönsten gotischen Bauwerke, deren größte Pracht die Kathedralen waren. Diese Bewegung hat Georges Duby «die Zeit der Kathedralen» genannt. In Europa bildete sich ein Hang zum Gigantischen und zur Maßlosigkeit aus. Immer höher hinauf, scheint das Motto der gotischen Baumeister gewesen zu sein. Nach einer ersten Generation von Kathedralen, die zwischen 1140 und 1190 mit Meisterwerken in Sens, Noyon und Laon entstanden, war das 13. Jahrhundert die große Zeit der Kathedralen, angefangen bei Notre-Dame in Paris. Das fieberhafte Streben nach Länge und Höhe zeigte sich besonders an der Kathedrale von Amiens, deren Bau fünfzig Jahre dauerte, von 1220 bis 1270 – praktisch die gesamte Regierungszeit Ludwigs des Heiligen, der dort, in dem schon 1256 fertig gestellten Chor, den berühmten
Dit d

Amiens
verkündete, seinen Schiedsspruch zur Schlichtung des Konflikts zwischen dem König von England und dessen Baronen. Die Kathedrale von Amiens war 145 Meter lang und 42,50 Meter hoch. Der ultimative Punkt wurde 1272 in Beauvais erreicht und überschritten: der auf 47 Meter hochgezogene Chor brach 1284 zusammen.
    Eine Spiritualität des Lichts leitete die Konstruktion der hohen gotischen Kirchenfenster. Die Theorie dazu war bereits im 12. Jahrhundert von Suger, dem Abt von Saint-Denis, entwickeltworden, auf dessen Initiative die Rekonstruktion der Abteikirche nach neuen theologisch-ästhetischen Prinzipien zurückging. Im Gegensatz zu den romanischen Fenstern, die meistens weiß oder aus Grisaille waren, blühte in den gotischen Fenstern eine Farbenpracht auf, die mit den Fortschritten beim Anbau von Farbpflanzen wie Waid und der Entwicklung der Färbetechniken zusammenhing. Alain Erlande-Brandenburg hat die bunten Fenster, die sich dem Farbenspiel der Plastiken hinzugesellten, in seinem Werk
Quand les cathédrales étaient peintes
beschrieben. Die gotische Baukust ging in der Tat – hauptsächlich bei der Ausschmückung der Kathedralen – mit einer Blüte der Plastik einher. Die mit Figuren geschmückten Portale boten

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