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Die Gedichte

Die Gedichte

Titel: Die Gedichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Laubengrün
hold im ersten Muttermühn
Kinderhemdchen säumen.

    Singst ein kleines Lied dabei,
und dein Lied klingt in den Mai:

    Blühe, blühe, Blütenbaum,
tief im trauten Garten.
Blühe, blühe, Blütenbaum,
meiner Sehnsucht schönsten Traum
will ich hier erwarten.

    Blühe, blühe, Blütenbaum,
Sommer wird dirs zahlen.
Blühe, blühe, Blütenbaum.
Schau, ich säume einen Saum
hier mit Sonnenstrahlen.

    Blühe, blühe, Blütenbaum,
balde kommt das Reifen.
Blühe, blühe, Blütenbaum,
Meiner Sehnsucht schönsten Traum
lehr mich ihn begreifen.

    Singst ein kleines Lied dabei,
und dein Lied ist lauter Mai.

    Und der Blütenbaum wird blühn,
blühn vor allen Bäumen,
sonnig wird dein Saum erglühn.
Und verklärt im Laubengrün
wird dein junges Muttermühn
Kinderhemdchen säumen.

    Und reden sie dir jetzt von Schande,
da Schmerz und Sorge dich durchirrt, –
oh, lächle, Weib! Du stehst am Rande
des Wunders, das dich weihen wird.

    Fühlst du in dir das scheue Schwellen,
und Leib und Seele wird dir weit –
oh, bete, Weib! Das sind die Wellen
der Ewigkeit.

    Der blonde Knabe singt:

    Was weinst du, Mutter? Ist das Spind
auch bettelleer, – sei gut!
Ich bin dein blondes Kronenkind,
und du hast Edelblut.

    Ich schaute ja, du weißt es nicht, –
wie du so oft noch spät
beim morgenmatten Lampenlicht
dein Königskleid genäht.

    So bist du eine Königin,
und sei nicht bang und zag –
und bis ich erst krafteigen bin,
kommt unser Königstag.

    Die Mutter:

    »Liebling, hast du gerufen?«
Es war ein Wort im Wind. –
»Wie viele steile Stufen
sind noch bis zu dir, mein Kind?« –
Da fand ihre Stimme die Sterne,
fand aber die Tochter nicht.

    Im Tale in tiefer Taverne
löschte ein letztes Licht.

    Manchmal fühlt sie: Das Leben ist groß,
wilder, wie Ströme, die schäumen,
wilder, wie Sturm in den Bäumen.
Und leise läßt sie die Stunden los
und schenkt ihre Seele den Träumen.

    Dann erwacht sie. Da steht ein Stern
still überm leisen Gelände,
und ihr Haus hat ganz weiße Wände –
Da weiß sie: Das Leben ist fremd und fern –
und faltet die alternden Hände.

CHRISTUS
ELF VISIONEN
(1896/1898)

Erste Folge
(1896/1897)

    1
DIE WAISE

    2
DER NARR

    3
DIE KINDER

    4
DER MALER

    5
JAHRMARKT

    6
DIE NACHT

    7
VENEDIG

    8
JUDENFRIEDHOF

    Zweite Folge
(1898)

    1
DIE KIRCHE VON NAGO

    2
DER BLINDE KNABE

    3
DIE NONNE

Erste Folge

    DIE WAISE

    Sie trollten sich. Es war ein schlecht Begängnis, –
die letzte Klasse. Keine Glocke klang.
Die Kleine sann: Lang war die Mutter krank,
durch Jahre war die Stube ihr Gefängnis.
Sie sagten Alle heute: Gott sei Dank –
sie ist erlöst. – Ihr aber war so bang
vor einem unerklärlichen Verhängnis.
Ja, und was jetzt? Sie haben sie verscharrt.
Du lieber Gott, was ist doch gar so hart
der feuchte Hügel da von Schutt und Steinen.
Und Mütterchen war doch gewohnt an Leinen
als weiches Lager. Und ihr kommt ein Weinen.
Warum sie sie so schlecht gebettet haben?
Warum in dumpfe, schwarze Erde graben
was hoch im Himmel helle Heimat hat? –
Der Himmel! Das muß eine Märchenstadt
mit goldnen Kuppeln sein und weißen Gassen,
dort ist nur Licht und Liebe – nicht zu fassen,
und niemand ist dort traurig und verlassen,
und selig Singen ist dort alles Tun.
Ein Stern ist Spielzeug wie das weiße Schaf,
mit dem die Kleine wohl zu spielen traf,
und ist dort oben eins besonders brav,
darfs in des Mondes Silberwiege ruhn,
verkrochen in der Wolken Flockenflaum.
Das muß ein Schlaf dort sein – und erst ein Traum!

    Da sieht die Kleine aus dem Sinnen auf:
Der Frühling wartet rings mit tausend Blüten,
und wie in jenen tiefen Märchenmythen,
drin braune Zwerge rote Schätze hüten,
ist lauter eitel Gold der Kirchturmknauf.
Nein, ist die Gotteswelt doch eine Pracht
und neu, als hätt der Herr sie just gemacht;
der Kleinen ists ein Jubel – und sie lacht.
Da schaut sie: drüben an der Kirchhofmauer
lehnt noch ein Mann so reglos und so müd;
in seinem dunkelgroßen Auge glüht
wie eine trübe Totenkerze – Trauer.
Derb ist und bäuerisch sein grau Gewand;
ins wirre Haar krallt er die irre Hand
und starrt verloren nach der Berge Rand
als ob zum Fluge in das fremde Land
sich seiner Seele leise Schwinge breite.

    Die Kleine trippelt kindisch ihm zur Seite
und staunt ihn groß mit Frageaugen an
und dann klingts alltagsfremd und unverdorben:
»Du, was bist du so traurig, fremder Mann, –
ist dir vielleicht auch Mütterchen gestorben?«
Er hört es nicht. Sein fremdes Auge sinnt
noch immer Wunder, und

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