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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Boden sinken und schien sich nicht daran zu stören, dass dieser in den Morgenstunden noch klamm war. Gedankenverloren wühlte er im Gras, riss den einen oder anderen Halm aus und begann schließlich, auf einem von ihnen herumzukauen.
    Dass er eben mit seinem Bruder gestritten hatte, zeichnete keinerlei Kummer auf seine Züge. Als Alaïs ihn von oben herab betrachtete, dachte sie, er müsse ein stoisches Gemüt wie eine grasende und wiederkäuende Kuh haben.
    Sie überlegte, Aurel zu folgen, unterließ es aber. Sie wusste nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte, wenn er begeistert von großen Medizinern sprach so wie am Tag zuvor. Und noch weniger wusste sie es, wie man ihm begegnete, wenn er schlechte Laune hatte.
    »Was ist passiert?«, fragte sie.
    Emeric blickte flüchtig hoch und unterließ es nicht, weiter an dem Grashalm zu kauen. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen, das sie eher höflich als warm deuchte, nicht der Frage geschuldet, sondern der gestrigen Gastfreundschaft. Alsbald schwand es. Düster setzte er stattdessen an: »Die Frau, die Aurel gestern aufgeschnitten hat … «
    »Louise?«
    Er nickte. »Ja, Louise. Sie ist in der Nacht gestorben.«
    Alaïs zuckte zusammen. Sie wusste, dass der jähe Schrecken daher rühren sollte, dass eine junge Frau aus dem Leben gerissen ward, ihre Kinder nun mutterlos waren, ihr Mann, der am Tag zuvor noch freudig gesoffen hatte, ohne Weib dastand. Doch was ihr als Erstes in den Sinn kam, war, dass Aurel noch heute das Dorf verlassen würde. Gewiss wäre er noch geblieben, hätte Louise seine Fürsorge gebraucht.
    Kraftlos ließ sie sich neben Emeric auf den Boden sinken, und er rückte hastig zur Seite, um ihr Platz zu machen. Er schien wohl zu glauben, dass die Beine ihr vor Kummer versagten.
    »Aber das Kind«, versuchte er sie zu trösten, »das Kind lebt. Aurel hat es gerettet. Wahrscheinlich wäre es gestorben, hätte er nicht …«
    Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern zuckte die Schultern und kaute weiter.
    Alaïs betrachtete ihn von der Seite. Sein Gesicht war ihr fremd, sie hatte es am Tag zuvor nicht lange genug betrachtet, um es sich einzuprägen, und auch jetzt tat sie es nur, um nach ähnlichkeitenzwischen ihm und seinem Bruder zu forschen. Es waren nicht viele zu finden. Emeries Augen waren nicht glühend braun, sondern von wässrigem Grau und versanken beinahe in den Schlitzen. Seine Zähne wuchsen schief, wenngleich weiß. Sein Haar schien dunkler und matter als das von Aurel, und es reichte auch nicht bis zum Kinn, sondern war knapp geschoren, wodurch der Kopf viel schmaler wirkte. Eben kratzte er sich dort.
    »Warum ist dein Bruder so wütend?«, fragte sie.
    »Er ist immer wütend, wenn er einen Menschen nicht retten kann.«
    »Ich … Ich hatte den Eindruck, ihr würdet streiten. Warum? Er ist doch nicht schuld an Louises Tod.«
    Er antwortete nicht, sondern zuckte wieder die Schultern, als wollte er dadurch die Pflicht abschütteln, die Launen seines Bruders zu deuten. Schweigen senkte sich über sie, doch es war nicht peinvoll. So gleichmütig wie Emeric dahockte, schien er weder Hast noch Erregung zu kennen, und was immer er von anderen Menschen erwartete, war so wenig, dass Worte nicht dazugehörten.
    So lieb ihm das Stillsitzen auch sein mochte, ihre Sache war es nicht. Schon wollte Alaïs wieder aufstehen, sich die feuchte Erde aus der Tunika schütteln, als ihr Blick auf seine Hände fiel. Sie waren lang, schmal, geschmeidig wie die von Aurel, doch anders als beim Bruder fehlten ihm am kleinen Finger der rechten Hand die Kuppe und das letzte Glied.
    »Was ist passiert?«, fragte sie.
    Emeric hob die Hand, streckte sie ins fahle Morgenlicht und betrachtete sie, als müsste er sich erst mühsam in Erinnerung rufen, dass sie nicht mehr heil war.
    »Aurel«, sagte er schlicht. »Das war Aurel.« Er schleuderte den Grashalm von sich, auf dem er gekaut hatte, und ehe Alaïs verwirrt nachfragen konnte, fügte er hinzu: »Als wir Kinder waren, hat er mir, während ich schlief, einen Teil des Fingers abgeschnitten. Er wollte unbedingt herausfinden, ob er ihn wieder annähen könnte. Leider ist ihm das missglückt.«
    Alaïs weitete ihren Blick. Sie suchte nach Spott in seiner Stimme, nach irgendetwas, was diese Erzählung als maßlose übertreibung verriet. Doch er senkte seine Hand, um den nächsten Grashalm auszureißen.
    »Und du hast dir das gefallen lassen?«, fragte sie fassungslos.
    »Ich sagte doch schon:

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