Die Gefährtin des Medicus
Er hat’s getan, als ich schlief, und als mich der Schmerz aufweckte, war es zu spät. Mein Vater hat ihn halb totgeprügelt. Aber das hat er oft getan, meist aus weit geringeren Anlässen. Aurel musste mir nicht erst die Fingerkuppe abschneiden, um Prügel zu beziehen.«
Immer noch klangen seine Worte gleichgültig, nur die Augen schienen noch tiefer in ihren Schlitzen zu versinken.
»Woher kommt ihr?«, fragte Alaïs. »Ich meine, bevor Aurel nach Montpellier ging … Wo ist das Dorf, nach dem er sich nennt?«
Wieder hob er die Hand, diesmal nicht, um seine Finger zu betrachten, sondern um ins Landesinnere zu zeigen. »Am Fuße des Mont Ventoux. Das ist der höchste Berg, den ich kenne. Auch im Sommer ist seine Spitze manchmal schneebedeckt. Aurel hat das Dorf immer gehasst und hat sich später in Montpellier doch seinen Namen gegeben. Vielleicht, weil er meinen Vater noch mehr hasste und den Namen, den der ihm gab, nicht tragen wollte.«
»Und nun?«, fragte sie. »Kehrt ihr wieder dorthin zurück … zum Fuße des Mont Ventoux?« Die Vorstellung, dass es so wäre, dass auf den öden Morgen ein noch öderer Tag folgen würde, wären die beiden erst wieder fort, stimmte sie verzagt.
Doch die Antwort fiel unerwartet aus. »Aurel will vorerst hierbleiben.«
»In Saint – Marthe?«
Alaïs’ Herz machte einen freudigen Satz. Der
Cyrurgicus
deuchte sie sonderlich, und alles, was Emeric von ihm erzählte – ob nun wahr oder nicht –, hatte ihn ihr noch ein wenig unheimlicher, noch ein wenig undurchschaubarer gemacht. Doch das, wassie am meisten befremdete –, nicht zu wissen, was ihn trieb und was er für die nächsten Stunden plante –, hatte in einer Welt, da sich kein Tag vom anderen unterschied, auch den größten Reiz.
»Da wir schon bei den Namen sind … zu mir kannst du Emy sagen«, sagte er da unwillkürlich. »Unser Vater nannte mich Emeric, Aurel sagte immer nur Emy. Und ja, wir bleiben in Saint – Marthe, für ein paar Tage.«
Er machte eine Pause, und erst als er fortfuhr, fiel Alaïs ein, dass sie ihn zuvor danach gefragt hatte und er ihr bis jetzt die Antwort schuldig geblieben war: »Deswegen haben wir vorhin auch gestritten.«
Er schleuderte den Grashalm von sich.
Warum er die Pläne seines Bruder nicht guthieß, wollte er nicht verraten.
Am späten Nachmittag wurde Louise zu Grabe getragen. Immer noch war der Himmel grau, das Licht milchig. Zwar verstellten keine dicken Wolkenknäuel die Sonne, dafür aber dünne Streifen, durchscheinend wie ein weißer Schleier und beharrlich genug, dem Licht alles Milde, Wärmende, Freundliche zu nehmen.
Louises Mann Remi heulte in einem fort, als man seine Frau in der rötlichen Erde verscharrte. Régine, die sich bei ihrem Bruder Josse untergehakt hatte, während sie ihre kleinen Kinder frei umherlaufen ließ – gleichgültig, dass sie in die offene Grube fallen könnten –, lästerte, dass sein Geheul nicht Zeichen tiefer Trauer war, sondern Folge von dem vielen Wein, den er am Tag zuvor auf ihre vermeintliche Rettung gesoffen hätte. Caterina verkniff es sich aus Respekt, ihr recht zu gegeben, und Alaïs’ Vater suchte mühsam ein betroffenes, anstatt ein gelangweiltes Gesicht zu machen.
Als Alaïs’ Blick auf den in grobes Leinentuch gehüllten Leichnam fiel, betrauerte sie nicht die junge Frau, sondern das eigene Los. Würde auch sie dereinst aus dem Leben gerissen werden, ohne dass sie jemals aus Saint – Marthe herausgekommen war? Nur jung zu sterben schien ihr weniger schlimm als jung zusterben und nichts gesehen, nichts erlebt zu haben, immer von denselben Menschen umgeben, die einen geschwätzig, die anderen stumm, wieder andere fromm – wie Frère Lazaire, der eben unentwegt neue Gebete anstimmte. Wahrscheinlich fiel auch sein Mitgefühl mit Louise äußerst bescheiden aus, gleichwohl ihm der Tod der Frau nützlich erschien – bekundete er doch eindringlich die Dreistigkeit und Unangemessenheit der gestrigen Feier.
Alaïs tat, als würde sie die Gebete mitmurmeln, und war in Wahrheit froh, dass sie auf diese Weise ihre Augen gesenkt halten konnte. So musste sie nicht Josses dreistem Blick begegnen, dem Trotz, der darin stand – und der Siegesgewissheit. Wahrscheinlich hatte Régine ihm am Tag zuvor Letztere noch eingebläut. Mochte sie sich auch noch so unnahbar geben, am Ende würde sie ihn doch nehmen müssen, weil es keinen anderen in ihrem Alter gab, nur den Sohn von Ursanne, Aziar, und der war schwachsinnig, wie alle
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