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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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und trank ein Glas Wasser. Auf der Küchenuhr sah ich, daß es sieben war.
    Ich ließ mein Glas noch einmal vollaufen, trug es ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch. Während ich trank – langsamer diesmal –, betrachtete ich Henrys Patience. Er mußte sie gelegt haben, als ich eingeschlafen war. Statt zu versuchen, Flushes in den senkrechten und Full Houses und Vierer in den waagerechten Reihen zusammenzubekommen, was bei diesem Spiel klug gewesen wäre, hatte er sich bemüht, zwei Straight Flushes in der Waagerechten zu legen, und das war schiefgegangen. Warum hatte er es getan? Um zu sehen, ob er gegen die Wahrscheinlichkeit spielen konnte? Oder war er bloß müde gewesen?
    Ich nahm die Karten, mischte sie und legte sie wieder aus, eine nach der anderen, entsprechend den Strategieregeln, die er mir
selbst beigebracht hatte, und ich übertraf sein Ergebnis um fünfzig Punkte. Die kalten, kecken Gesichter starrten mich an: Buben in Schwarz und Rot, die Pikdame mit ihrem fischigen Blick. Plötzlich durchschauerte mich eine Woge von Erschöpfung und Übelkeit; ich holte meinen Mantel aus dem Wandschrank, ging hinaus und machte die Tür leise hinter mir zu.
    Der Flur wirkte im Morgenlicht wie ein Krankenhauskorridor. An der Treppe blieb ich unsicher noch einmal stehen und schaute zurück zu Francis’ Tür; sie war von den anderen in der langen gesichtslosen Reihe nicht zu unterscheiden.
    Ich glaube, wenn ich überhaupt einen Augenblick lang zweifelte, dann war es da, als ich in dem kalten, gespenstischen Treppenhaus stand und zu dem Apartment zurückblickte, aus dem ich gekommen war. Wer waren diese Leute? Wie gut kannte ich sie? Konnte ich einem von ihnen wirklich trauen, wenn es darauf ankam? Wieso hatten sie sich ausgerechnet mich ausgesucht, um mir diese Geschichte zu erzählen?
    Es ist komisch, aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, dann erkenne ich, daß dieser spezielle Augenblick, damals als ich blinzelnd im verlassenen Hausflur stand, der Scheidepunkt war, an dem ich mich hätte entschließen können, etwas ganz anderes zu tun als das, was ich dann tat. Aber natürlich erkannte ich diesen entscheidenden Augenblick damals nicht als das, was er war; vermutlich tun wir das nie. Statt dessen gähnte ich, schüttelte die kurze Benommenheit ab, die sich über mich gelegt hatte, und ging die Treppe hinunter.
     
    Als ich, schwindlig und erschöpft, in meinem Zimmer ankam, hätte ich am liebsten die Vorhänge zugezogen und mich ins Bett gelegt – es schien mir plötzlich das verlockendste Bett der Welt zu sein mit seinem muffigen Kopfkissen, den schmutzigen Laken und allem, was dazugehörte. Aber das war unmöglich. In zwei Stunden hatte ich griechischen Aufsatzunterricht, und ich hatte meine Aufgaben noch nicht gemacht.
    Die Hausaufgabe war ein zweiseitiger Aufsatz in griechischer Sprache über ein beliebiges Epigramm von Kallimachos. Ich hatte erst eine Seite geschrieben, und hastig machte ich mich daran, auf ungeduldige und etwas unehrliche Weise den Rest zu verfassen: Ich schrieb in englisch und übersetzte dann Wort für Wort. Dabei hatte Julian uns gebeten, so gerade nicht zu verfahren. Der Wert des griechischen Prosaaufsatzes, meinte er, bestehe nicht darin,
daß er einem zu einer besonderen sprachlichen Ausdrucksfähigkeit verhalf; vielmehr könne er, wenn man es richtig mache und unmittelbar aus dem Kopf schreibe, einen lehren, griechisch zu denken. Die Gedankengänge würden anders, sagte er, wenn sie in die Schranken einer starren und unvertrauten Sprache gezwungen werden. Bestimmte gewöhnliche Ideen seien plötzlich nicht mehr auszudrücken, andere, bis dahin nie geträumte, erwachten zum Leben und fänden wunderbaren neuen Ausdruck. Zwangsläufig, denke ich, habe ich Mühe, auf englisch exakt zu erklären, was er damit meinte. Ich kann nur sagen, ein incendium ist seiner Natur nach etwas ganz anderes als das feu, mit dem der Franzose seine Zigarette anzündet, und beide unterschieden sich wiederum völlig von dem krassen und unmenschlichen pyr, das die Griechen kannten, dem pyr, das auf den Türmen Ilions loderte oder das tosend und brüllend an der trostlosen, windgepeitschten Küste vom Scheiterhaufen des Patroklos flammte.
    Pyr : Dieses eine Wort enthält für mich die geheime, die strahlende, die schreckliche Klarheit des Altgriechischen. Wie kann ich Sie dazu bringen, daß Sie es sehen, dieses seltsame, harte Licht, das Homers Landschaften durchdringt und Platons Dialoge erleuchtet,

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