Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
leid?«
    »Daß er es dir erzählt hat. Überhaupt. Camilla ist sehr bestürzt.«
    Er wirkte durchaus ruhig, müde, aber ruhig, und seine intelligenten Augen schauten mich mit stiller Offenheit an. Jählings war ich furchtbar beunruhigt. Ich mochte Francis und Henry, aber es war unvorstellbar, daß den Zwillingen etwas zustoßen sollte. Es durchzuckte mich schmerzhaft, wie nett sie immer zu mir gewesen waren, wie lieb Camilla sich in den ersten, unbeholfenen Wochen gezeigt hatte, wie Charles immer so eine Art gehabt hatte, in meinem Zimmer aufzukreuzen oder sich mir in Gesellschaft mit dem – für mich herzerwärmendem – stillen Gestus zuzuwenden, er und ich seien besonders gute Freunde. Ich dachte an Spaziergänge und Autoausflüge und Abendessen in ihrer Wohnung, an ihre – meinerseits häufig unbeantworteten – Briefe, die sie mir in den langen Wintermonaten so treu geschrieben hatten.
    Irgendwo hörte ich das Kreischen und Ächzen einer Wasserleitung. Wir sahen uns an.
    »Was werdet ihr tun?« fragte ich. Anscheinend war dies die einzige Frage, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden zu stellen fähig war, und noch hatte mir niemand eine zufriedenstellende Antwort gegeben.
    Er zuckte die Achseln; es war ein komisches, einseitiges Achselzucken, eine Angewohnheit, die er mit seiner Schwester gemeinsam hatte. »Was weiß ich«, sagte er müde. »Ich denke, wir sollten gehen.«
     
    Als wir in Julians Büro ankamen, waren Henry und Francis schon da. Francis war mit seinem Aufsatz noch nicht fertig. Er kritzelte hastig an der zweiten Seite, und seine Finger waren blau von Tinte, während Henry die erste gegenlas und mit seinem Füller hier ein Jota subscriptum, da einen Spiritus einsetzte.
    Er blickte nicht auf. »Hallo«, sagte er. »Macht die Tür zu, ja?«
    Charles stieß mit dem Fuß gegen die Tür. »Schlechte Neuigkeiten«, sagte er.
    »Sehr schlechte?«
    »Finanziell gesehen, ja.«
    Francis fluchte leise, kurz und zischend, ohne mit der Arbeit aufzuhören. Henry warf ein paar letzte Akzente auf das Blatt und wedelte dann mit dem Papier durch die Luft, um die Tinte zu trocknen.
    »Ja, um Himmels willen«, sagte er milde, »das kann hoffentlich warten. Ich möchte nicht während des Unterrichts darüber nachdenken müssen. Wie geht’s mit der letzten Seite voran, Francis?«
    »Noch einen Moment«, sagte Francis, in die Arbeit vertieft, und seine Worte liefen dem hastigen Kritzeln seiner Feder nach.
    Henry trat hinter Francis’ Stuhl, beugte sich über seine Schulter und fing an, den oberen Teil der letzten Seite zu lesen; dabei stützte er sich mit einem Ellbogen auf den Tisch. »Ist Camilla bei ihm?«
    »Ja. Bügelt sein scheußliches altes Hemd.«
    »Hmnn.« Er deutete mit seinem Füller auf eine Stelle. »Francis, hier muß der Optativ stehen, nicht der Konjunktiv.«
    Francis ging rasch zurück nach oben – er war fast am Ende der Seite angelangt – und änderte den Modus.
    »Und dieser Labial wird zu Pi, nicht zu Kappa.«
     
    Bunny kam zu spät und in schlechter Laune. »Charles«, fauchte er, »wenn du willst, daß deine Schwester je einen Mann abkriegt, dann solltest du ihr das Bügeln beibringen.« Ich war müde und schlecht vorbereitet, und ich hatte Mühe, in Gedanken beim Unterricht zu bleiben. Um zwei hatte ich Französisch, aber nach der Griechischklasse ging ich geradewegs zurück auf mein Zimmer, nahm eine Schlaftablette und legte mich ins Bett. Die Schlaftablette war eine unnötige Geste; ich brauchte sie nicht, aber die bloße Möglichkeit der Ruhelosigkeit, eines Nachmittags voll schlechter Träume und ferner Wasserleitungen, war so unangenehm, daß ich sie nicht einmal in Betracht ziehen wollte.
    So schlief ich fest, fester als es gut gewesen wäre, und der Tag verstrich unbemerkt. Es war fast dunkel, als mir von irgendwoher, aus großen Tiefen, ins Bewußtsein drang, daß jemand an meine Tür klopfte.
    Es war Camilla. Ich muß schrecklich ausgesehen haben, denn sie hob eine Braue und lachte. »Alles, was du tust, ist schlafen«, stellte sie fest. »Wie kommt es, daß du immer schläfst, wenn ich dich besuche?«
    Ich blinzelte sie an. Meine Vorhänge waren zugezogen, und auf dem Gang war es dunkel, und für mich, halb betäubt und schwindelig, sah sie ganz und gar nicht aus wie die strahlende und unerreichbare Person, die sie war, sondern wie eine nebelhafte, unbeschreiblich zarte Erscheinung mit zarten Handgelenken und Schatten und wildem Haarschopf – die Camilla, die

Weitere Kostenlose Bücher