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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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ein fremdes Licht, das sich in unserer gewöhnlichen Sprache nicht fassen läßt? Unsere gemeinsame Sprache ist eine Sprache des Verzwickten und des Wunderlichen, Heimat von Kürbissen und Lumpenkerlen, Potztausend und Bier, die Sprache des Ahab und des Falstaff und der Mrs. Gamp; zwar finde ich sie durchaus geeignet für Erwägungen wie diese, aber sie läßt mich restlos im Stich, wenn ich versuche, mit ihr zu beschreiben, was ich am Griechischen liebe, jener Sprache, die frei ist von allen Schrullen und Grillen, eine Sprache, die besessen ist von Handlung und von der Freude, zu sehen, wie eine Handlung sich zu Handlungen vervielfältigt, Handlungen, die unerbittlich voranmarschieren, während immer weitere Handlungen von rechts und links heranfließen und sich sauber in den Marsch einfügen, in einer langen, geraden Kolonne von Ursache und Wirkung zu dem, was unausweichlich sein wird: dem einzigen möglichen Ende.
    In gewissem Sinne war dies der Grund, weshalb ich mich den anderen in meinem Griechischkurs so nah fühlte. Auch sie kannten diese schöne und fruchtbare Landschaft, die seit Jahrhunderten tot war; sie kannten die Erfahrung, mit den Augen des fünften Jahrhunderts von ihren Büchern aufzublicken und die Welt bestürzend träge und fremdartig vor sich zu sehen, als wäre sie nicht ihre
Heimat. Deshalb bewunderte ich Julian und vor allem Henry. Ihr Geist, ja, sogar ihre Augen und Ohren waren unwiderruflich fixiert in den Schranken dieser strengen alten Rhythmen – die Welt war tatsächlich nicht ihre Heimat, zumindest nicht die Welt, wie ich sie kannte –, und sie waren keineswegs nur gelegentliche Besucher in diesem Land, das ich selbst nur als staunender Tourist kannte: Sie wohnten fast ständig dort, so intensiv, wie es vermutlich nur möglich war. Altgriechisch ist eine schwierige Sprache, eine sehr schwierige Sprache in der Tat, und es ist sehr leicht möglich, sie ein Leben lang zu studieren, ohne je ein Wort sprechen zu können; aber noch heute muß ich lächeln, wenn ich an Henrys kalkuliertes, formelles Englisch denke, das Englisch eines gebildeten Ausländers, verglichen mit der wunderbaren Flüssigkeit und Sicherheit seines Griechischen – schnell, eloquent und bemerkenswert geistreich. Es war immer ein Wunder für mich, wenn ich hörte, wie Julian und er sich auf griechisch unterhielten, diskutierten und scherzten, wie ich keinen von beiden es je auf englisch tun hörte; viele Male habe ich gesehen, wie Henry den Telefonhörer mit gereiztem »Hallo?« abnahm – und möge ich nie das harte und unwiderstehliche Entzücken seines »Kairei!« vergessen, wenn Julian am anderen Ende der Leitung war.
    Mir war – nach der Geschichte, die ich eben gehört hatte – ein bißchen unbehaglich mit jenen kallimachischen Epigrammen, die mit geröteten Wangen und Wein zu tun haben, mit den Küssen hellgliedriger Jünglinge bei Fackelschein. Ich hatte mir statt dessen ein ziemlich trauriges ausgesucht, das übersetzt lautet: »Am Morgen begruben wir Melanippos; als die Sonne unterging, starb die Jungfrau Basilo von eigener Hand, da sie es nicht ertrug, ihren Bruder auf den Scheiterhaufen zu legen und weiterzuleben; so sah das Haus nun zweifache Trauer, und ganz Kyrene senkte den Kopf, als es das Heim glücklicher Kinder so trostlos sah.«
    In weniger als einer Stunde war ich mit meinem Aufsatz fertig. Ich sah ihn noch einmal durch und überprüfte die Endungen, und dann wusch ich mir das Gesicht, zog mir ein frisches Hemd an und ging hinüber zu Bunny.
    Von uns sechsen waren Bunny und ich die einzigen, die auf dem Campus wohnten; sein Haus stand auf der anderen Seite des Rasens, am gegenüberliegenden Ende des Commons. Er hatte ein Zimmer im Erdgeschoß, was sicher unpraktisch für ihn war, da er die meiste Zeit oben in der Gemeinschaftsküche verbrachte, wo er seine Hosen bügelte, im Kühlschrank herumstöberte und sich in
Hemdsärmeln aus dem Fenster hängte, um zu den Vorübergehenden hinunterzubrüllen. Als er auf mein Klopfen nicht antwortete, ging ich hinauf, um ihn dort oben zu suchen. Er saß im Unterhemd auf der Fensterbank, trank eine Tasse Kaffee und blätterte in einer Illustrierten. Ich war ein bißchen überrascht, auch die Zwillinge dort zu sehen: Charles stand da, die Füße über Kreuz, rührte mürrisch in seinem Kaffee und schaute aus dem Fenster; Camilla – auch das überraschte mich, denn Camilla hatte sonst nicht viel übrig für Hausarbeit – bügelte eines von Bunnys

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