Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
weiß, was muß ich dann machen, um den Rest berechnen zu können?«
Ich lehnte mich gegen meine Kommode und starrte ihn an. Mein Haarschnitt war vergessen. »Zeig mal, was du hast«, sagte ich.
Er sah mich ein, zwei Augenblicke lang eindringlich an. Dann griff er in die Tasche. Als er die Hand öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Ich kam näher. Ein fahler, schlankstieliger Pilz lag auf seiner flachen Hand.
»Amanita caesaria «, sagte er. »Nicht, was du denkst«, fügte er hinzu, als er meinen Gesichtsausdruck sah.
»Ich weiß, was ein Amanita ist.«
»Nicht alle amanitae sind giftig. Der hier ist harmlos.«
»Was ist es denn?«« Ich nahm ihm den Pilz aus der Hand und hielt ihn ins Licht. »Ein Halluzinogen?««
»Nein. Tatsächlich sind sie ganz schmackhaft – die Römer schätzten sie sehr –, aber die Leute meiden sie allgemein, weil sie so leicht mit ihrem bösen Zwilling zu verwechseln sind.«
»Ihr böser Zwilling?«
»Amanita phalloides «, sagte Henry sanft. »Der Knollenblätterpilz.«
Für einen Moment sagte ich gar nichts.
»Was hast du vor?«« fragte ich schließlich.
»Was glaubst du?«
Erregt trat ich an meinen Schreibtisch. Henry steckte den Pilz wieder ein und zündete sich eine Zigarette an. »Hast du einen Aschenbecher?« fragte er höflich.
Ich gab ihm eine leere Mineralwasserdose. Seine Zigarette war fast aufgeraucht, ehe ich etwas sagte. »Henry, ich glaube, das ist keine gute Idee.«
Er zog eine Braue hoch. »Warum nicht?«
Warum nicht, fragt er! »Weil man«, antwortete ich ein wenig wild, »Gift nachweisen kann. Jedes Gift. Glaubst du, wenn Bunny tot umkippt, findet man das nicht sonderbar? Jeder Idiot von einem Leichenbeschauer kann ...«
»Das weiß ich«, unterbrach Henry geduldig. »Deshalb frage ich dich nach der Dosierung.«
»Das hat doch nichts damit zu tun. Schon eine winzige Menge kann ...«
» ... genügen, um jemanden sehr krank werden zu lassen.« Henry zündete sich eine neue Zigarette an. »Aber sie muß nicht unbedingt tödlich sein.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine«, sagte er und schob sich die Brille auf dem Nasenrücken herauf, »daß es, strikt in Kategorien von Virulenz betrachtet, eine beliebige Anzahl von ausgezeichneten Giften gibt, und die meisten davon sind diesem hier weit überlegen. Die Wälder sind bald voll von Fingerhut und Eisenhut. Aus Fliegenfängern könnte ich soviel Arsen gewinnen, wie ich will. Und selbst Kräuter, die hier nicht verbreitet sind – mein Gott, die Borgia hätten geweint, wenn sie den Reformkostladen in Brattleboro gesehen hätten, den ich letzte Woche gefunden habe. Nieswurz, Alraun, reines Wermutöl ... ich vermute, die Leute kaufen alles, wenn sie nur glauben, daß es etwas Natürliches ist. Das Wermutöl verkauften sie dort als organisches Insektenabwehrmittel – als ob es damit ungefährlicher wäre als das Zeug aus dem Supermarkt. Mit einer Flasche könnte man eine Armee umbringen.« Er schob noch einmal seine Brille hoch. »Das Problem bei diesen Dingen – so ausgezeichnet sie sein mögen – besteht, wie du schon sagtest, in der Verabreichung. Amatoxine sind unsauber, verglichen mit anderen Giften. Erbrechen, Gelbfärbung, Krämpfe. Nicht wie manche der kleinen italienischen Trösterchen, die relativ schnell und freundlich wirken. Andererseits, was wäre leichter zu geben? Ich bin kein Botaniker,
weißt du. Aber selbst Mykologen haben Mühe, die amanitae voneinander zu unterscheiden. Ein paar selbstgepflückte Pilze ... ein paar schlechte, die daruntergemischt sind ... der eine Freund wird schrecklich krank, und der andere ...?« Er zuckte die Achseln.
Wir sahen einander an.
»Wie kannst du sicher sein, daß du selbst nicht zuviel abbekommst?« fragte ich.
»Vermutlich gar nicht«, antwortete er. »Mein eigenes Leben muß glaubhaft in Gefahr sein. Du siehst also, ich habe nur einen winzigen Spielraum, mit dem ich arbeiten kann. Trotzdem sind die Chancen, daß ich damit durchkomme, ausgezeichnet. Ich brauche mich nur um mich selbst zu kümmern. Der Rest läuft von allein.«
Ich wußte, was er meinte. Der Plan hatte mehrere schwerwiegende Mängel, aber im Kern war er brillant: Wenn man sich auf etwas mit beinahe mathematischer Sicherheit verlassen konnte, dann darauf, daß Bunny es bei jeder beliebigen Mahlzeit schaffen würde, fast doppelt so viel zu essen wie alle anderen.
Henrys Gesicht blickte blaß und mit heiterer Gelassenheit durch den Zigarettendunst. Er griff in die
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