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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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geschlafen. »Henry ist die letzte Nacht vorbeigekommen«, sagte ich.
    »Tatsächlich? Was wollte er denn? Ach, das hätte ich fast vergessen  ...« Er griff in die Tasche seines Mantels und zog ein in Servietten gewickeltes Bündel hervor. »Ich hab’ dir ein Sandwich mitgebracht, weil du mittags nicht beim Essen warst. Camilla sagt, die Mensa-Lady hat gesehen, wie ich’s geklaut habe, und hat auf einer Liste ein schwarzes Kreuz neben meinem Namen gemacht.«
    Es war Frischkäse und Marmelade, das wußte ich, ohne nachzuschauen. Die Zwillinge waren versessen darauf, aber ich mochte es nicht besonders. Ich wickelte eine Ecke aus, nahm einen Bissen und legte das Sandwich auf den Tisch. »Hast du in letzter Zeit mal mit Henry gesprochen?«
    »Heute morgen noch. Er hat mich zur Bank gefahren.«
    Ich nahm das Sandwich und biß noch ein Stück ab. Ich hatte noch nicht gefegt; noch immer lagen die Haarbüschel auf dem Boden. »Sagte er irgend etwas über ...«
    »Über was?«
    »Daß er Bunny in ein oder zwei Wochen zum Essen einladen möchte?«
    »Ach, das«, sagte Charles. Er ließ sich rücklings auf mein Bett sinken und stopfte sich die Kissen unter den Kopf. »Ich dachte, das wußtest du schon. Darüber denkt er schon seit einer Weile nach.«
    »Und was hältst du davon?«
    »Ich denke, er wird eine höllische Mühe haben, genug Pilze zu finden, damit ihm auch nur übel wird. Es ist noch zu früh. Letzte
Woche mußten Francis und ich mitgehen und ihm helfen, aber wir haben kaum was gefunden. Francis kam ganz aufgeregt zurück und erzählte: ‹O mein Gott, guckt doch, ich hab’ so viele Pilze gefunden. ‹ Aber als wir dann in seine Tasche schauten, da hatte er bloß eine Handvoll Boviste.«
    »Aber du glaubst, er wird genug finden können?«
    »Na klar, wenn er noch eine Weile wartet. Ich weiß schon, du hast keine Zigaretten, oder?«
    »Nein.«
    »Ich wünschte, du würdest rauchen. Ich weiß nicht, wieso du’s nicht tust. Du warst doch kein Sportler auf der High School, oder?«
    »Nein.«
    »Deshalb raucht Bun nämlich nicht. Irgendein Football-Trainer mit’ner Vorliebe für gesundes Leben hat ihn in einem leicht beeindruckbaren Alter in die Finger gekriegt.«
    »Hast du Bun in letzter Zeit mal gesehen?«
    »Nicht oft. Aber gestern abend war er bei uns in der Wohnung und ist eine Ewigkeit geblieben.«
    »Das ist nicht bloß heiße Luft?« fragte ich und musterte ihn aufmerksam. »Ihr wollt das wirklich durchziehen?«
    »Lieber gehe ich ins Gefängnis, als zu wissen, daß ich Bunny für den Rest meines Lebens am Halse habe. Und ich bin nicht allzu scharf aufs Gefängnis, wo wir gerade davon sprechen. Weißt du« - er setzte sich auf dem Bett auf und krümmte sich nach vorn, als habe er Magenschmerzen –, »ich wünschte wirklich, du hättest Zigaretten. Wie heißt dieses grausige Mädchen, das unten am Gang wohnt – Judy?«
    »Poovey«, sagte ich.
    »Klopf doch mal bei ihr an, ja? Frag sie, ob sie dir eine Schachtel geben kann. Sie sieht aus wie eine, die ganze Stangen im Zimmer liegen hat.«
     
    Es wurde wärmer. Der schmutzige Schnee war pockennarbig vom warmen Regen, und er schmolz an manchen Stellen und entblößte schleimiges, gelbes Gras darunter; Eiszapfen brachen ab und sausten wie Dolche von den spitzen Gipfeln der Dächer.
    »Wir könnten jetzt in Südamerika sein«, sagte Camilla eines Abends, als wir in meinem Zimmer Bourbon aus Teetassen tranken und dem Regen lauschten, der von der Dachrinne tropfte. »Das ist komisch, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich, obwohl ich nicht eingeladen gewesen war.
    »Damals gefiel mir die Idee nicht. Jetzt denke ich, wir wären da unten vielleicht ganz gut zurechtgekommen.«
    »Ich wüßte nicht, wie.«
    Sie stützte die Wange auf die geballte Faust. »Oh, es wäre gar nicht so schlimm gewesen. Wir hätten in Hängematten geschlafen. Spanisch gelernt. In einem Häuschen mit Hühnern im Hof gewohnt.«
    »Wäret krank geworden«, sagte ich. »Erschossen.«
    »Ich kann mir Schlimmeres vorstellen«, sagte sie mit einem kurzen Seitenblick, der mir das Herz durchbohrte.
    Ein plötzlicher Windstoß ließ die Fensterscheiben rattern.
    »Na«, sagte ich, »ich bin froh, daß ihr nicht geflogen seid.«
    Sie ignorierte diese Bemerkung; statt dessen schaute sie aus dem dunklen Fenster und nippte an ihrer Teetasse.
     
    Inzwischen war die erste Aprilwoche angebrochen, keine angenehme Zeit für mich und die anderen. Bunny, der relativ ruhig gewesen war, tobte jetzt, weil Henry

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