Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
einer Sache hielt, und ich wußte, daß Bunny sie noch schwerer deuten konnte als ich. In guten Zeiten hatte er sie oft tolpatschig beleidigt, ohne es zu wollen; als die Zeiten schlecht geworden waren, versuchte er auf vielerlei Art, sie zu kränken und herabzusetzen, und meist verfehlte er sein Ziel meilenweit. Sie war unempfindlich gegen alle Schmähungen ihres Aussehens; sie hielt seinen
Blicken stand, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn er die vulgärsten und peinlichsten Witze erzählte; sie lachte, wenn er versuchte, ihren Geschmack oder ihre Intelligenz zu beleidigen; sie ignorierte seine häufigen, von erlesenen und zweifellos mit viel Mühe ausgegrabenen Falschzitaten gewürzten Diskurse des Inhalts, daß alle Frauen ihm kategorisch unterlegen seien: nicht – wie er – geschaffen für Philosophie und Kunst und hehre Gedanken, sondern dazu, sich einen Ehemann zu ergattern und das Heim zu versorgen.
Nur einmal habe ich gesehen, daß er sie wirklich traf. Das war drüben in der Wohnung der Zwillinge, spätabends. Charles war zum Glück mit Henry unterwegs, um Eis zu holen; er hatte viel getrunken, und wenn er dabeigewesen wäre, wäre die Angelegenheit sicher außer Kontrolle geraten. Bunny war so betrunken, daß er kaum aufrecht sitzen konnte. Fast den ganzen Abend über war seine Laune passabel gewesen, doch dann wandte er sich ohne Vorwarnung an Camilla und fragte: »Wieso wohnt ihr beiden eigentlich zusammen?«
Sie zuckte die Achsel auf diese seltsame, einseitige Art, wie es beider Gewohnheit war.
»Hä?«
»Es ist praktisch«, sagte Camilla. »Billig.«
»Na, ich find’s verdammt eigenartig.«
»Ich habe mein Leben lang mit Charles zusammengewohnt.«
»Nicht viel Privatsphäre, was? Kleines Apartment? Sitzt man sich dauernd auf der Pelle, wie?«
»Wir haben zwei Schlafzimmer.«
»Und wenn du mitten in der Nacht einsam wirst?«
Kurzes Schweigen trat ein.
»Ich weiß nicht, was du damit sagen willst«, erwiderte sie eisig.
»Na klar weißt du das«, sagte Bunny. »Höllisch praktisch. Auch irgendwie klassisch. Bei den Griechen trieben’s die Geschwister ja untereinander wie – hoppla«, sagte er und fing sein Whiskeyglas auf, das von der Armlehne herunterrutschen wollte. »Sicher, es ist gegen das Gesetz und so weiter«, fuhr er fort. »Aber was bedeutet euch das schon? Brichst du ein Gesetz, kannst du gleich alle brechen, hä?«
Ich war sprachlos. Francis und ich glotzten ihn an, während er unbekümmert sein Glas leerte und von neuem nach der Flasche griff.
Zu meiner grenzenlosen Überraschung sagte Camilla spitz:
»Du darfst nicht denken, ich schlafe mit meinem Bruder, bloß weil ich nicht mit dir schlafe.«
Bunny lachte leise und unangenehm. »Du könntest mir gar nicht soviel zahlen, daß ich mit dir schlafe, Girlie«, sagte er. »Nicht für alles Geld der Welt.«
Sie sah ihn an, und ihre hellen Augen waren absolut ohne jeden Ausdruck. Dann stand sie auf und ging in die Küche, und Francis und ich blieben in qualvollem Schweigen zurück.
Religiöse Schmähungen, Wutanfälle, Beleidigungen, Erpressung, Schuldenmacherei: lauter Kleinkram eigentlich, ärgerlich – aber zu geringfügig, sollte man meinen, um fünf vernünftige Leute zu einem Mord zu bewegen. Aber – falls ich es wagen kann, das zu sagen – erst nachdem ich geholfen hatte, einen Menschen zu töten, begann ich zu begreifen, was für ein unfaßlicher und komplexer Akt ein Mord tatsächlich sein kann und daß er gar nicht notwendigerweise einem einzelnen spektakulären Motiv zuzuschreiben sein muß. Ihn einem solchen Motiv zuzuschreiben, wäre kein Problem. Es gab ja eins, sicherlich. Aber der Instinkt zur Selbsterhaltung ist nicht so zwingend, wie man vielleicht glauben möchte. Die Gefahr, die Bunny darstellte, war schließlich keine unmittelbare, sondern eine, die langsam vor sich hin siedete; eine von der Art, die man, zumindest in abstraktem Sinne, beliebig verschieben oder ablenken kann. Ich kann mir gut vorstellen, wie wir dort am verabredeten Ort zur vereinbarten Zeit plötzlich darauf brennen, alles noch einmal zu überlegen, vielleicht in letzter Minute Schonung zu gewähren. Die Angst um unser eigenes Leben mag uns veranlaßt haben, ihn zum Galgen zu führen und ihm die Schlinge um den Hals zu legen, aber es war schon ein stärkerer Impetus nötig, uns dazu zu bringen, daß wir tatsächlich handelten und ihm den Stuhl unter den Füßen wegtraten.
Bunny hatte uns, ohne es zu wissen, mit einem
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