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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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solchen Impetus versorgt. Ich würde gern sagen, daß ich zu dem, was ich tat, von einem überwältigenden, tragischen Motiv getrieben wurde. Aber ich glaube, es wäre eine Lüge, wenn ich Ihnen das erzählen wollte, wenn ich Sie glauben machen wollte, daß ich an diesem Sonntagnachmittag im April tatsächlich von irgend etwas dergleichen angeleitet worden sei.
    Eine interessante Frage: Woran dachte ich, als ich beobachtete, wie seine Augen sich – es sollte das letzte Mal sein – mit verblüffender Ungläubigkeit weiteten ( »kommt schon, Leute, das soll ’n
Witz sein, nicht ?«)? Nicht an die Tatsache, daß ich half, meine Freunde zu retten, ganz bestimmt nicht. Auch nicht an Angst. Nicht an Schuld. Sondern an Kleinigkeiten. Beleidigungen, Andeutungen, kleinliche Grausamkeiten. Die vielen hundert kleinen, ungerächten Demütigungen, die sich monatelang in mir aufgestaut hatten. An sie dachte ich, und an weiter nichts. Ihretwegen konnte ich ihn überhaupt betrachten, ohne den leisesten Stich des Mitleids oder der Reue zu fühlen, als er für einen langen Augenblick an der Kante des Abgrunds taumelte – mit rudernden Armen und rollenden Augen, ein Stummfilmkomiker, der auf einer Bananenschale ausrutschte –, bevor er hintenüberkippte und in den Tod stürzte.
     
    Henry, glaubte ich, hatte einen Plan. Was für einen, wußte ich nicht. Er verschwand immer wieder zu mysteriösen Besorgungen, und vielleicht war es nur immer wieder die gleiche; aber damals erfüllte ich sie in dem bangen Wunsch zu glauben, jemand habe die Situation im Griff, mit einer gewissen hoffnungsvollen Bedeutung. Nicht selten weigerte er sich, die Tür zu öffnen, auch spätabends, wenn Licht brannte und ich wußte, daß er zu Hause war; mehr als einmal kam er zu spät zum Essen, mit nassen Schuhen, windzerzaustem Haar und Lehm an den Aufschlägen seiner ordentlichen dunklen Hose. Ein Stapel geheimnisvoller Bücher in einer nahöstlichen Sprache, die aussah wie Arabisch, mit dem Bibliotheksstempel des Williams College erschien auf dem Rücksitz seines Wagens. Das war zweifach rätselhaft, da ich erstens nicht glaubte, daß er Arabisch lesen konnte, und da er zweitens für die Williams College Library keine Ausleihbefugnis besaß. Als ich bei einem dieser Bücher einen verstohlenen Blick in die Lasche im hinteren Buchdeckel warf, sah ich, daß die Buchlaufkarte noch drinsteckte und daß der letzte, der das Buch entliehen hatte, ein F. Lockett gewesen war, und zwar im Jahr 1929.
    Aber vielleicht das Allermerkwürdigste sah ich eines Nachmittags, als ich mich von Judy Poovey nach Hampden hatte mitnehmen lassen. Ich wollte Sachen in die Reinigung bringen, und Judy, die in die Stadt fuhr, erbot sich, mich mitzunehmen. Wir hatten unsere Besorgungen erledigt – von einer Riesenmenge Kokain, die wir uns auf dem Parkplatz des Burger King reingezogen hatten, nicht zu reden –, und dann standen wir mit der Corvette vor einer roten Ampel, wir hörten grausige Musik (»Free Bird«) vom Radiosender Manchester, und Judy plapperte, besinnungslos zugekokst,
wie sie war, von zwei Typen, die sie kannte und die es im Food King Supermarket miteinander getrieben hatten (»Mitten im Laden! Vor der Tiefkühlkost!«), als sie aus dem Fenster schaute und lachte. »Guck mal«, sagte sie, »ist das nicht dein Freund Vierauge ?«
    Erschrocken lehnte ich mich nach vorn. Unmittelbar gegenüber auf der anderen Straßenseite war ein winziger Esoladen – mit Gongs, Webteppichen und Eimern voll mit allen möglichen Sorten von Kräutern und Räucherkram hinter der Theke. Ich hatte noch nie einen Menschen darin gesehen, außer dem traurigen alten Hippie mit der Omabrille, einem Hampden-Absolventen, dem der Laden gehörte. Aber jetzt sah ich zu meinem Erstaunen Henry – schwarzer Anzug, Regenschirm etc. – inmitten von Himmelskarten und Einhörnern. Er stand an der Theke und betrachtete einen Bogen Papier. Der Hippie wollte etwas sagen, aber Henry schnitt ihm das Wort ab und deutete auf etwas hinter der Theke. Der Hippie zuckte die Achseln und nahm ein kleines Fläschchen vom Regal. Ich beobachtete die beiden beinahe atemlos.
    »Was glaubst du, was macht der denn da? Den armen alten Trottel schikanieren? Das ist übrigens ’n Scheißladen. Ich war mal drin, um ’ne Waage zu kaufen, und die hatten keine – bloß ’ne Masse Kristallkugeln und so ’n Scheiß. Kennst du diese grüne Plastikwaage, die ich – Hey, du hörst ja gar nicht zu «, heulte sie, als sie

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