Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Tasche und holte den Pilz noch einmal hervor.
»Also«, sagte er. »Ein einziger Hut, etwa in dieser Größe, von einem Amanita phalloides reicht aus, um einen gesunden Hund von siebzig Pfund sehr krank werden zu lassen. Erbrechen, Durchfall, aber keine Krämpfe, soweit ich sehen konnte. Ich glaube nicht, daß etwas so Schwerwiegendes wie Dysfunktion der Leber vorlag, aber ich schätze, das werden wir den Tierärzten überlassen müssen. Offensichtlich ...«
»Henry, woher weißt du das?«
Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Kennst du die beiden gräßlichen Boxer, die dem Ehepaar im ersten Stock gehören?«
Das war furchtbar, aber ich mußte lachen – ich konnte nicht anders. »Nein «, sagte ich. »Das hast du nicht getan.«
»Ich fürchte doch«, sagte er trocken und drückte seine Zigarette aus. »Dem einen geht es leider gut. Aber der andere schleppt keinen Abfall mehr auf meine Veranda. Er war innerhalb von zwanzig Stunden tot, und das von einer nur geringfügig höheren Dosis – der Unterschied betrug vielleicht ein Gramm. Mit diesem Wissen, scheint mir, sollte ich in der Lage sein, zu bestimmen, wieviel Gift jeder von uns bekommen sollte. Was mir Sorgen macht, ist die unterschiedliche Giftkonzentration von Pilz zu Pilz. Es ist ja nicht, als hätte ein Apotheker die Dosierung abgewogen.
Vielleicht irre ich mich – du weißt darüber sicher mehr als ich –, aber ein Pilz, der zwei Gramm wiegt, könnte leicht ebenso viel Gift enthalten wie einer von drei Gramm, oder? Das ist mein Dilemma.«
Aus der Brusttasche zog er ein mit Zahlen bedecktes Blatt Papier. »Es ist mir sehr unangenehm, dich da hineinzuziehen, aber niemand sonst versteht etwas von Mathematik, und auch ich selbst bin alles andere als zuverlässig. Würdest du es dir mal ansehen?«
Erbrechen, Gelbfärbung, Krämpfe. Mechanisch nahm ich ihm das Blatt ab. Es war mit algebraischen Gleichungen bedeckt, aber im Augenblick war Algebra, offen gestanden, das letzte, was ich im Sinn hatte. Ich schüttelte den Kopf und wollte ihm das Blatt zurückgeben, aber da schaute ich ihn an, und etwas ließ mich innehalten. Ich war, erkannte ich, in der Lage, all dem ein Ende zu machen, jetzt, hier. Er brauchte meine Hilfe wirklich, sonst wäre er nicht zu mir gekommen; emotionale Appelle, das wußte ich, waren sinnlos, aber wenn ich so täte, als wüßte ich, was ich tat, würde es mir vielleicht gelingen, ihm die Sache auszureden.
Ich legte das Blatt auf meinen Schreibtisch, setzte mich mit einem Bleistift hin und mühte mich Schritt für Schritt durch das Zahlendickicht. Gleichungen über chemische Konzentrationen waren nie meine starke Seite in der Chemie, und sie sind schon schwierig genug, wenn man versucht, eine fixe Konzentration in einer Suspension aus destilliertem Wasser zu errechnen; hier aber, wo es um variierende Konzentrationen in unregelmäßig geformten Objekten ging, war es buchstäblich unmöglich. Er hatte wahrscheinlich sämtliche ihm bekannten Grundlagen der Algebra gebraucht, um dies zu errechnen, und soweit ich ihm folgen konnte, hatte er nicht mal schlechte Arbeit geleistet, aber das hier war kein Problem, das sich mit Algebra lösen ließ, falls es sich überhaupt lösen ließ. Jemand mit einem drei- oder vierjährigen Mathematikstudium hätte sich vielleicht etwas einfallen lassen können, das überzeugender ausgesehen hätte. Durch Ausprobieren gelang es mir, seine Margen ein bißchen einzuengen, aber ich hatte das meiste des wenigen, was ich über Differentialrechnung wußte, vergessen, und die Lösung, die ich schließlich hatte, war, auch wenn sie vermutlich näher an der Wirklichkeit war als seine, alles andere als korrekt.
Ich legte den Bleistift aus der Hand und blickte auf. Die ganze Angelegenheit hatte mich ungefähr eine halbe Stunde gekostet. Henry hatte sich Dantes Purgatorio vom Regal genommen und las versunken darin.
»Henry.«
Er blickte abwesend auf.
»Henry, ich glaube, so funktioniert es nicht.«
Er schob den Finger in das Buch und klappte es zu. »Ich habe einen Fehler im zweiten Teil gemacht«, sagte er. »Wo das Faktorieren anfängt.«
»Als Versuch ist es nicht schlecht, aber auf den ersten Blick sehe ich, daß es ohne chemische Tabellen und gute Kenntnisse in Differentialrechnung und praktischer Chemie unlösbar ist. Es gibt keine Möglichkeit, es herauszubekommen. Ich meine, chemische Konzentration wird ja nicht mal in Gramm oder Milligramm gemessen, sondern in etwas namens Mol.«
»Kannst
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