Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
die Unterlippe. Von Panik ergriffen, knöpfte ich mir das Hemd zu, so schnell meine tauben Finger es mir gestatteten, und wollte etwas sagen, aber da schnitt er mir mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab.
»Aber was ist, wenn es ... ?« wisperte ich.
Wenn es Henry ist, hatte ich sagen wollen. Aber was ich eigentlich dachte, war: »Wenn es die Cops sind?« Und ich wußte, Francis dachte das gleiche.
Wieder klopfte es, hartnäckiger jetzt.
Mein Herz pochte. Ratlos vor Angst, ging ich zum Bett und setzte mich.
Francis fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Herein«, rief er.
Ich war so verstört, daß ich einen Augenblick brauchte, um zu erkennen, daß es nur Charles war. Er lehnte mit einem Ellbogen im Türrahmen, den roten Schal in großen, nachlässigen Schlingen um den Hals gelegt. Als er hereinkam, sah ich sofort, daß er betrunken war. »Hi«, sagte er zu Francis. »Was, zum Teufel, machst du denn hier?«
»Du hast uns eine Todesangst eingejagt.«
»Ich wünschte, ich hätte gewußt, daß du kommst. Henry hat mich angerufen und mich aus dem Bett geholt.«
Wir beide sahen ihn an und warteten auf eine Erklärung. Er wand sich aus seinem Mantel und starrte mich mit wäßrig eindringlichem Blick an. »Du warst in meinem Traum«, sagte er.
»Was?«
Er blinzelte. »Ist mir gerade eingefallen«, sagte er. »Ich hatte einen Traum. Du kamst drin vor.«
Ich starrte ihn an. Bevor ich Gelegenheit hatte, ihm zu erzählen, daß ich auch von ihm geträumt hätte, sagte Francis ungeduldig: »Komm schon, Charles. Was ist los?«
Charles fuhr sich mit der Hand durch das windzerzauste Haar. »Nicht«, sagte er. Er griff in die Manteltasche und zog einen Stoß längsgefaltete Blätter heraus. »Hast du dein Griechisch für heute gemacht?« fragte er mich.
Ich verdrehte die Augen. Griechisch war wirklich das letzte, was ich im Sinn gehabt hatte.
»Henry meinte, du hättest es vielleicht vergessen. Er hat angerufen und gesagt, ich soll dir meins zum Abschreiben bringen, für alle Fälle.«
Er war sehr betrunken. Er lallte nicht, aber er roch nach Whiskey und schwankte erheblich. Sein Gesicht war rot und strahlend wie bei einem Engel.
»Du hast mit Henry gesprochen? Hat er was gehört?«
»Er ist sehr verärgert über dieses Wetter. Soweit er weiß, hat sich noch nichts ergeben. Junge, es ist aber heiß hier drin.« Er schüttelte die Jacke ab.
Francis saß in seinem Sessel am Fenster. Ein Knöchel balancierte auf dem Knie, und darüber balancierte eine Teetasse auf dem bloßen Knöchel. Er schaute Charles mit ziemlich schmalen Augen an.
Charles drehte sich um und geriet leicht ins Taumeln. »Was guckst du?« fragte er.
»Hast du eine Flasche in der Tasche?«
»Nein.«
»Unsinn, Charles. Ich hab’ es gluckern hören.«
»Und was würde das ausmachen?«
»Ich möchte etwas trinken.«
»Na schön«, sagte Charles gereizt. Er langte in die Innentasche seiner Jacke und zog eine flache Halbliterflasche heraus. »Hier«, sagte er. »Aber sauf sie nicht aus.«
Francis trank seinen Tee und griff nach der Flasche. »Danke«, sagte er und goß sich die verbliebenen Zweifingerbreit in seine Teetasse. Ich schaute ihn an – dunkler Anzug, sehr aufrecht, die Beine jetzt am Knie übereinandergeschlagen. Er war das Inbild der Achtbarkeit, nur daß seine Füße nackt waren. Unverhofft konnte ich ihn sehen, wie die Welt ihn sah und wie ich selbst ihn gesehen hatte, als ich ihm das erstemal begegnet war – cool, wohlerzogen, reich, über allen Tadel erhaben. Es war eine so überzeugende Illusion, daß selbst ich, der ich wußte, wie im Innersten unecht das alles war, sie als seltsam tröstlich empfand.
Er trank den Whiskey in einem Zug aus. »Wir müssen nüchtern werden, Charles«, sagte er. »Wir haben in zwei Stunden Unterricht.«
Charles seufzte und setzte sich auf das Fußende meines Bettes. Er sah müde aus, was sich aber nicht in dunklen Ringen oder einem
bleichen Gesicht äußerte, sondern in einer träumerischen, rotwangigen Traurigkeit. »Ich weiß«, sagte er. »Ich hatte gehofft, der Spaziergang bringt’s«
»Du brauchst einen Kaffee.«
Er wischte sich mit dem Handballen über die feuchte Stirn. »Ich brauche mehr als einen Kaffee«, sagte er.
Ich strich die Blätter glatt und ging zu meinem Schreibtisch, um die Griechischhausaufgaben abzuschreiben.
Francis setzte sich neben Charles auf das Bett. »Wo ist Camilla?«
»Schläft.«
»Was habt ihr heute abend gemacht? Euch betrunken?«
»Nein«,
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