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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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vergessen hatte. Wie lange war es her, daß ich jemanden so geküßt hatte? Monate, und noch mehr Monate.
    Seltsam, wenn man daran dachte, wie einfach die Dinge sein konnten. Eine Party, ein paar Drinks, eine hübsche Fremde. So lebten die meisten meiner Kommilitonen – redeten beim Frühstück ziemlich befangen über die Abenteuer der vergangenen Nacht, als wäre dieses harmlose, anheimelnde kleine Laster, das im Katalog der Sünden irgendwo unter Trinken und über Völlerei stand, irgendwie der Abgrund des Verkommenen und Verruchten.
    Poster. Welke Blumen in einem Bierglas. Das fluoreszierende Glühen ihrer Stereoanlage im Dunkeln. Das alles war mir allzu vertraut aus meiner Kleinstadtjugend, und doch erschien es mir jetzt unglaublich fern und unschuldig, die Erinnerung an irgendeine vergessene Schulparty. Ihr Lip gloss schmeckte wie Bubble Gum. Ich vergrub mein Gesicht an der weichen, leicht beißend riechenden Haut ihres Halses und wiegte sie vor und zurück – plappernd, murmelnd fühlte ich, wie ich fiel und fiel, in ein dunkles, halb vergessenes Leben.
     
    Ich erwachte – dem dämonischen roten Gleißen einer Digitaluhr zufolge – um halb drei und war voller Panik. Ich hatte geträumt, eigentlich nichts Furchterregendes: Charles und ich waren mit einem Zug gefahren und hatten versucht, einem geheimnisvollen
dritten Passagier zu entkommen. Die Waggons waren voll mit Leuten von der Party – Judy, Jack Teitelbaum, Jud mit seiner Pappkrone -, als wir durch die Gänge schwankten. Aber während des ganzen Traums hatte ich das Gefühl, daß das alles nicht wichtig war, daß ich eigentlich sehr viel dringendere Sorgen hatte, wenn ich mich nur darauf besinnen könnte. Und dann fiel es mir ein – und der Schock weckte mich.
    Es war, als erwachte ich aus einem Alptraum, nur um mich in einem schlimmeren Alptraum wiederzufinden. Kerzengerade und mit klopfendem Herzen saß ich da und klatschte mit der flachen Hand an die Wand auf der Suche nach einem Lichtschalter, bis mir die schreckliche Erkenntnis dämmerte, daß ich gar nicht in meinem eigenen Zimmer war. Seltsame Formen, unbekannte Schatten drängten sich grausig heran; nichts lieferte einen Hinweis darauf, wo ich mich befand, und ein paar fieberhafte Augenblicke lang fragte ich mich, ob ich tot sei. Dann fühlte ich den schlafenden Körper neben mir. Instinktiv zuckte ich zurück und stieß dann sanft mit dem Ellbogen dagegen. Nichts rührte sich. Ich blieb ein, zwei Minuten im Bett liegen und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Dann stand ich auf, sammelte meine Kleider ein und zog mich an, so gut ich es im Dunkeln konnte, und ich ging.
    Als ich ins Freie trat, rutschte ich auf einer glatten Stufe aus und fiel mit dem Gesicht voran in halbmeterhohen Schnee. Einen Moment lang blieb ich still liegen; dann erhob ich mich auf die Knie und schaute mich ungläubig um. Ein paar Schneeflocken waren eine Sache, aber einen so plötzlichen und heftigen Wetterumschwung hatte ich nicht für möglich gehalten. Die Blumen waren begraben, der Rasen, alles war verschwunden. Eine weite, ununterbrochene Schneefläche erstreckte sich blau und glitzernd, so weit ich sehen konnte.
    Meine Hände waren wund, und der Ellbogen tat mir weh. Mit einiger Anstrengung kam ich auf die Beine. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, woher ich gekommen war, erkannte ich zu meinem Entsetzen, daß ich soeben Bunnys Haus verlassen hatte. Sein Fenster im Erdgeschoß starrte mich schwarz und schweigend an. Ich dachte an seine Ersatzbrille, die dort auf dem Schreibtisch lag, an das leere Bett, an die Familienfotos, die im Dunkeln lächelten.
    Als ich – auf einem wirren Umweg – in mein Zimmer gelangt war, ließ ich mich aufs Bett fallen, ohne Mantel oder Schuhe auszuziehen. Das Licht brannte, und ich fühlte mich gespenstisch ausgeliefert und verwundbar, aber ich wollte es auch nicht ausschalten.
Das Bett schwankte ein bißchen, wie ein Floß, und ich stellte einen Fuß auf den Boden, um es zur Ruhe zu bringen.
    Dann schlief ich ein, und ich schlief zwei Stunden lang sehr fest, bis mich ein Klopfen an der Tür weckte. Von neuer Panik erfaßt, rappelte ich mich hoch. Ich hatte mich in meinen Mantel verheddert; er hatte sich irgendwie um meine Knie gewickelt und schien mich mit den Kräften eines lebenden Wesens anzugreifen.
    Die Tür öffnete sich knarrend. Dann war überhaupt nichts mehr zu hören. »Was, zum Teufel, ist los mit dir?« fragte plötzlich jemand in scharfem Ton.
    Francis stand

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