Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
antwortete Charles knapp. »Die Wohnung geputzt.«
»Nein. Im Ernst?«
»Das ist kein Witz.«
Ich war immer noch so bedröhnt, daß ich nicht begriff, was ich da abschrieb; nur hier und da verstand ich einen Satz. Müde vom Marsch, hielten die Soldaten inne, um im Tempel zu opfern. Ich kam aus jenem Lande zurück und berichtete, ich hätte die Gorgo gesehen; sie habe mich aber nicht in Stein verwandelt.
»Unser Haus ist voller Tulpen«, sagte Charles aus heiterem Himmel.
»Was soll das heißen?«
»Ich meine, bevor der Schnee zu tief wurde, sind wir rausgegangen und haben sie reingeholt. Alles ist voll davon. Sogar die Wassergläser.«
Tulpen, dachte ich und starrte auf das Gewirr der Buchstaben vor mir. Ob die Griechen sie unter einem anderen Namen gekannt hatten, falls sie überhaupt Tulpen gekannt hatten? Der griechische Buchstabe Psi sieht aus wie eine Tulpe. Und plötzlich blühten in dem dichten Buchstabenwald auf der Seite in schnellem, planlosem Muster kleine schwarze Tulpen auf wie fallende Regentropfen.
Was ich sah, begann zu verschwimmen. Ich schloß die Augen. Lange saß ich so da, halb dösend, bis ich merkte, daß Charles meinen Namen sagte.
Ich drehte mich um. Sie brachen auf. Francis saß auf der Bettkante und band sich die Schuhe zu.
»Wo willst du hin?« fragte ich.
»Nach Hause, mich umziehen. Es wird Zeit.«
Ich wollte nicht allein sein – ganz im Gegenteil –, aber unerklärlicherweise hatte ich das starke Verlangen, sie beide los zu sein. Die
Sonne war aufgegangen. Francis streckte die Hand aus und knipste die Lampe aus. Das Morgenlicht war nüchtern und fahl und ließ mein Zimmer schrecklich still aussehen.
»Bis bald«, sagte er, und dann hörte ich, wie ihre Schritte auf der Treppe verhallten. Alles wirkte bleich und gespenstisch im Morgengrauen – schmutzige Teetassen, das ungemachte Bett, Schneeflocken, die mit luftiger, gefährlicher Ruhe am Fenster vorbeischwebten. In meinen Ohren sang es. Ich wandte mich mit zitternden, tintenfleckigen Fingern wieder meiner Arbeit zu, und das Kratzen meiner Feder scharrte laut durch die Stille. Ich dachte an Bunnys dunkles Zimmer und an die Schlucht und an all die Schichten von Schweigen auf Schweigen.
»Und wo ist Edmund heute morgen?« fragte Julian, als wir unsere Grammatiken aufschlugen.
»Zu Hause vermutlich«, sagte Henry. Er war zu spät gekommen, und wir hatten keine Gelegenheit mehr gehabt, miteinander zu reden. Er wirkte so ruhig und ausgeruht, wie er es von Rechts wegen nicht hätte sein dürfen.
Auch die anderen waren überraschend ruhig. Sogar Francis und Charles waren sauber gekleidet, frisch rasiert, ganz unbekümmert wie immer. Camilla saß zwischen ihnen, die Ellbogen nachlässig auf den Tisch gestützt, das Kinn in der Hand, gelassen wie eine Orchidee.
Julian schaute Henry mit hochgezogener Braue an. »Ist er krank?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das Wetter könnte ihn aufgehalten haben. Vielleicht sollten wir ein paar Minuten warten.«
»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Henry und wandte sich wieder seinem Buch zu.
Nach der Stunde, wir hatten das Lyzeum verlassen und waren auf den Birkenhain zugegangen, sah Henry sich um, ob auch niemand in Hörweite war, und wir alle steckten die Köpfe zusammen, um zu hören, was er zu sagen hatte; aber genau in diesem Moment, als wir dicht zusammenstanden und unser Atem kleine Wolken bildete, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief – und dort, weit entfernt, kam Dr. Roland durch den Schnee herangestapft, schwankend wie ein wandelnder Leichnam.
Ich löste mich von den anderen und ging ihm entgegen. Er
atmete schwer, und mit viel Gehuste und Gekeuche begann er, über irgend etwas zu reden, das ich mir in seinem Büro ansehen sollte.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mitzugehen; meinen Schritt mußte ich seinem bleiernen Schlurfen anpassen. Im Haus hielt er mehrere Male auf der Treppe inne, um ein bißchen Schmutz zu kommentieren, das der Hausmeister übersehen hatte, und dann stieß er kraftlos mit dem Fuß dagegen. Eine halbe Stunde hielt er mich fest. Als ich schließlich mit klingenden Ohren und einem Armvoll loser Papiere, die mir im Wind davonflattern wollten, entkommen konnte, lag der Birkenhain verlassen da.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber die Welt war jedenfalls nicht über Nacht aus dem Orbit geschleudert worden. Die Leute hasteten auf dem Weg zum Unterricht hin und her, und überall nahm business as usual seinen Gang. Der
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