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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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unbeteiligtem Interesse mein Bild im Spiegel an. Was hat das zu bedeuten? dachte ich. Ich sah schrecklich aus. Die Welt war immer noch die alte, aber ich stand hier und zitterte und sah Fledermäuse wie Ray Milland in The Lost Weekend.
    Ein kalter Luftzug wehte zum Fenster herein. Ich fühlte mich schwach, aber seltsam erfrischt. Ich ließ mir ein heißes Bad ein, warf eine Handvoll von Judys Badesalz hinein, und als ich herausstieg und mich anzog, hatte ich mich wieder gefangen.
    Nihil sub sole novum, dachte ich, als ich den Gang hinunter zu meinem Zimmer ging. In der Fülle der Zeit sinkt jegliche Tat ins Nichts.
     
    Sie waren alle da, als ich an diesem Abend bei den Zwillingen zum Essen erschien; sie saßen um das Radio versammelt und lauschten der Wettervorhersage, als wäre es ein Kriegsbericht von der Front. »Die weiteren Aussichten«, sagte eine muntere Sprecherstimme. »Für Donnerstag ist mit kühlem Wetter zu rechnen, mit starker Bewölkung und Schauerneigung. Übergang zu wärmerem Wetter am ...«
    Henry knipste das Radio aus. »Wenn wir Glück haben«, sagte er, »ist der Schnee morgen abend weg. Wo warst du heute nachmittag, Richard?«
    »Zu Hause.«
    »Ich bin froh, daß du da bist. Ich möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten, wenn du nichts dagegen hast.«
    »Worum geht’s denn?«
    »Ich möchte dich nach dem Essen in die Stadt fahren, damit du dir die Filme im Orpheum ansehen und uns nachher davon erzählen kannst. Hast du etwas dagegen?«
    »Nein.«
    »Ich weiß, es ist eine Zumutung für einen Schulabend, aber ich halte es wirklich nicht für klug, wenn wir anderen noch einmal hinfahren. Charles hat angeboten, die Griechischaufgaben für dich abzuschreiben, wenn du möchtest.«
    »Wenn ich’s auf dem gelben Papier mache, das du immer benutzt, und deinen Füller dazu nehme«, meinte Charles, »dann wird er den Unterschied nicht sehen.«
    »Danke«, sagte ich. Charles besaß ein bemerkenswertes Talent für Fälschungen, das sich bei ihm nach Camillas Angaben schon in der Kindheit bemerkt gemacht hatte – er war Spezialist für Zeugnisunterschriften in der vierten Klasse, und in der sechsten fertigte er komplette Entschuldigungsschreiben. Ich ließ mir von ihm immer meine Stundenabrechnungen mit Dr. Rolands Namen unterschreiben.
    »Wirklich«, sagte Henry, »ich bitte dich sehr ungern darum. Ich glaube, die Filme sind schauderhaft.«
    Sie waren ziemlich schlecht. Der erste war ein Road Movie aus den frühen siebziger Jahren und erzählte von einem Mann, der seine Frau verläßt, um durchs Land zu fahren. Unterwegs gerät er nach Kanada und bekommt dort mit einer Gruppe von Wehrpflichtdeserteuren zu tun; am Ende kehrt er zu seiner Frau zurück, und sie erneuern ihre Ehegelübde in einer Hippie-Zeremonie. Das Schlimmste war der Soundtrack – lauter Gitarrensongs, in denen das Wort »freedom« vorkam.
    Der zweite Film war neueren Datums. Er handelte vom Vietnamkrieg und hieß Fields of Shame. Es war eine teure Produktion mit vielen Stars. Allerdings waren die Special effects für meinen Geschmack ein bißchen allzu realistisch – Leute, die die Beine abgerissen kriegten und so weiter.
    Als ich herauskam, parkte Henrys Wagen mit abgeschalteten Scheinwerfern unten an der Straße. Oben bei Charles und Camilla saßen alle mit aufgekrempelten Ärmeln um den Küchentisch und waren in die Griechischaufgaben vertieft. Als wir hereinkamen, gerieten sie in Bewegung, und Charles stand auf und kochte eine Kanne Kaffee, während ich meine Notizen las. Beiden Filmen fehlte ein richtiger Handlungsfaden, und ich hatte Mühe, ihnen das Wesentliche zu vermitteln.
    »Aber die sind ja furchtbar«, stellte Francis fest. »Es ist mir sehr peinlich, daß die Leute denken könnten, wir seien in dermaßen schlechte Filme gegangen.«
     
    Charles hatte mit meiner Griechischaufgabe wunderbare Arbeit geleistet. Am nächsten Tag sah ich vor dem Unterricht noch einmal alles durch, als Julian hereinkam. Er sah den leeren Stuhl und lachte. »Meine Güte«, sagte er. »Nicht schon wieder.«
    »Sieht aber so aus«, sagte Francis.
    »Ich muß sagen, ich hoffe doch, daß unser Unterricht nicht gar so öde geworden ist. Bitte sagen Sie Edmund, falls er die Güte haben sollte, morgen doch einmal teilzunehmen, werde ich mich bemühen, besonders unterhaltsam zu sein.«
     
    Mittags war klar, daß der Wetterbericht nicht gestimmt hatte. Die Temperatur war um fünf Grad gefallen, und am Nachmittag schneite es wieder.
    Wir fünf

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