Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
wollten am Abend zusammen essen gehen, und als die Zwillinge und ich bei Henry ankamen, sah er besonders düster aus. »Ratet mal, wer mich gerade angerufen hat«, sagte er.
»Wer denn?«
»Marion.«
Charles setzte sich. »Was wollte sie?«
»Sie wollte wissen, ob ich Bunny gesehen hätte.«
»Was hast du gesagt?«
»Natürlich habe ich nein gesagt«, antwortete Henry gereizt. »Sie wollten sich Sonntag abend treffen, und sie hat ihn seit Samstag nicht mehr gesehen.«
»Macht sie sich Sorgen?«
»Nicht besonders.«
»Was ist dann das Problem?«
»Es ist keins.« Henry seufzte. »Ich hoffe nur, daß das Wetter sich morgen bessert.«
Aber das tat es nicht. Der Mittwoch dämmerte strahlend und kalt herauf, und in der Nacht waren weitere fünf Zentimeter Schnee gefallen.
»Natürlich«, sagte Julian, »es stört mich nicht, wenn Edmund hin und wieder eine Stunde versäumt. Aber drei hintereinander ... Und Sie wissen ja, wie schwer es ihm fällt, das Versäumte wieder aufzuholen.«
»Wir können so nicht viel länger weitermachen«, sagte Henry, als wir an diesem Abend bei den Zwillingen zu Hause saßen und Zigaretten rauchten, während Eier und Speck unberührt vor uns auf dem Tisch standen.
»Was können wir denn tun?«
»Ich weiß es nicht. Aber er ist jetzt seit zweiundsiebzig Stunden verschwunden, und es wird komisch aussehen, wenn wir nicht ziemlich bald anfangen, uns Sorgen zu machen.«
»Es macht sich doch sonst niemand Sorgen«, sagte Charles.
»Es sieht ihn auch sonst niemand so oft wie wir. Ob Marion wohl zu Hause ist?« Er sah auf die Uhr.
»Warum?«
»Weil ich sie vielleicht anrufen sollte.«
»Um Gottes willen«, sagte Francis, »zieh sie bloß da nicht rein.«
»Ich habe nicht die Absicht, sie irgendwo hineinzuziehen. Ich will ihr nur deutlich machen, daß wir alle Bunny seit drei Tagen nicht mehr gesehen haben.«
»Und was erwartest du von ihr?«
»Ich hoffe, daß sie dann die Polizei anruft.«
»Hast du den Verstand verloren?«
»Nun, wenn sie es nicht tut, werden wir es tun müssen«, sagte Henry ungeduldig. »Je länger er weg ist, desto schlechter wird es aussehen. Ich will keinen großen Trubel mit Leuten, die Fragen stellen.«
»Warum dann die Polizei anrufen?«
»Weil ich bezweifle, daß es irgendwelchen Trubel geben wird, wenn wir früh genug hingehen. Vielleicht schicken sie dann ein oder zwei Leute heraus, die ein bißchen herumschnüffeln, aber wahrscheinlich halten sie es für einen falschen Alarm ...«
»Wenn ihn noch niemand gefunden hat«, sagte ich, »warum könnte das dann ausgerechnet zwei Verkehrspolizisten aus Hampden gelingen?«
»Niemand hat ihn gefunden, weil niemand ihn sucht. Er ist keine halbe Meile weit weg.«
Wer immer sich am anderen Ende meldete, brauchte ziemlich lange, um Marion ans Telefon zu holen. Henry stand geduldig da und starrte auf den Boden; nach und nach begann sein Blick umherzuwandern, und nach ungefähr fünf Minuten machte er ein genervtes Geräusch und hob den Kopf. »Meine Güte«, sagte er, »was dauert denn da so lange? Gib mir eine Zigarette, bitte, Francis.«
Er hatte sie im Mund, und Francis gab ihm Feuer, als Marion sich meldete. »Oh, hallo, Marion«, sagte er, blies eine Rauchwolke von sich und wandte uns den Rücken zu. »Ich bin froh, daß ich dich erwische. Ist Bunny da?«
Eine kurze Pause. »Na«, sagte Henry und streckte die Hand nach einem Aschenbecher aus, »weißt du denn, wo er ist?«
Lange Stille.
»Tja, offen gestanden«, sagte Henry dann, »das gleiche wollte ich dich auch fragen. Er ist seit zwei oder drei Tagen nicht mehr zum Unterricht gekommen.«
Wieder langes Schweigen. Henry hörte zu, und sein Gesicht war liebenswürdig und ausdruckslos. Dann, plötzlich, weiteten sich seine Augen. »Was?« fragte er ein wenig zu scharf.
Wir alle waren ruckartig hellwach. Henry schaute keinen von uns an, sondern starrte auf die Wand hinter uns, und seine blauen Augen waren rund und gläsern.
»Ich verstehe«, sagte er schließlich.
Am anderen Ende wurde noch mehr geredet.
»Nun, wenn er bei dir vorbeikommen sollte, wäre ich dir dankbar, wenn du ihn bitten könntest, mich anzurufen. Ich gebe dir meine Nummer.«
Als er aufgelegt hatte, lag ein merkwürdiger Ausdruck auf seinem Gesicht. Wir schauten ihn an.
»Henry?« sagte Camilla. »Was ist?«
»Sie istwütend. Kein bißchen beunruhigt. Rechnet damit, daß er jeden Augenblick zur Tür hereinspaziert kommt. Ich weiß nicht«, fuhr er fort und
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