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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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dachte, er hätte ein Kaninchen erwischt oder so was.
    Ich schätze, Milo hatte ihn ausgegraben, seinen Kopf und, ähm, seine Brust – ich konnt’s nicht genau sehen. Es war die Brille, die mir dann auffiel ... sie war runtergerutscht von einem Ohr und baumelte irgendwie hin und her, und Milo leckte ihm das Gesicht  ...«
     
    Wir liefen alle drei rasch nach unten (der Hausmeister glotzte, die Köchinnen linsten aus der Küche, die Cafeteriafrauen in ihren Krankenschwesterstrickjacken lehnten sich über die Balustrade), vorbei an der Snackbar, vorbei am Postzimmer, wo die Lady mit der roten Perücke an der Telefonzentrale ausnahmsweise ihr Wolltuch und die Tasche mit den verschiedenfarbigen Wollknäueln beiseite gelegt hatte und mit einem zerknüllten Kleenex in der
Hand in der Tür stand und uns neugierig mit ihren Blicken verfolgte, als wir durch den Flur galoppierten und in den Hauptraum des Commons stürzten, wo eine Gruppe grimmig aussehender Polizisten stand; der Sheriff war da, der Jagdaufseher, Sicherheitsleute, ein fremdes Mädchen, das weinte, und jemand, der Fotos machte, und alle redeten auf einmal, und jemand sah uns und schrie: »Hey! Ihr! Habt ihr den Jungen nicht gekannt?«
    Überall gingen Blitzlichter los, und vor unseren Gesichtern drängten sich plötzlich Mikrofone und Camcorder.
    »Wie lange kannten Sie ihn?«
    » ... Fall etwas mit Rauschgift zu tun?«
    » ... durch Europa gereist, nicht wahr?«
    Henry strich sich mit der Hand übers Gesicht.
    Ich werde nie vergessen, wie er aussah: weiß wie Talkum, mit Schweißperlen auf der Oberlippe, und das Licht spiegelte sich in seinen Brillengläsern ... »Lassen Sie mich in Ruhe«, murmelte er, packte Camilla beim Handgelenk und versuchte, sich zur Tür durchzudrängen.
    Alles schob sich nach vorn und versperrte ihm den Weg.
    » ... einen Kommentar abgeben ...«
    » ... beste Freunde?«
    Die schwarze Schnauze des Camcorders wurde ihm ins Gesicht geschoben. Mit einer Armbewegung stieß er sie beiseite, und das Ding fiel mit lautem Krach auf den Boden. Batterien rollten in alle Richtungen davon. Der Besitzer – ein dicker Mann mit einer »Mets«-Mütze – schrie auf, bückte sich voller Entsetzen halb zu Boden und sprang dann fluchend wieder auf, als wolle er den sich entfernenden Henry beim Kragen packen. Seine Finger streiften Henrys Jacke im Rücken, und Henry drehte sich überraschend schnell um.
    Der Mann wich zurück. Es war komisch, aber die Leute schienen auf den ersten Blick nie zu bemerken, wie groß Henry war. Vielleicht lag es an seiner Kleidung, die aussah, wie eine von diesen lahmen, aber seltsam undurchdringlichen Verkleidungen in den Comics (wieso sieht kein Mensch je, daß der »bücherwurmhafte« Kent Clark ohne seine Brille wie Superman aussieht?). Vielleicht kam es auch darauf an, ob er es die Leute sehen ließ. Er besaß das sehr viel bemerkenswertere Talent, sich unsichtbar zu machen – in einem Zimmer, einem Auto: Er hatte buchstäblich die Fähigkeit, sich ganz nach Belieben zu dematerialisieren –, und vielleicht war diese Gabe nur die Umkehr der anderen, mit der sich die
umherschweifenden Moleküle plötzlich konzentrieren ließen, so daß seine schattenhafte Gestalt unversehens zu fester Form gerann, eine Metamorphose, die für den Betrachter erschreckend war.
     
    Der Krankenwagen war weg. Die Straße erstreckte sich glatt und leer im Nieselregen. Agent Davenport kam eilig die Treppe zum Commons herauf; er hatte den Kopf gesenkt, und seine Schuhe klatschten auf dem nassen Marmor. Als er uns sah, blieb er stehen. Sciola, der hinter ihm kam, erklomm mühsam die letzten zwei, drei Stufen und stützte sich mit der Handfläche auf das Knie. Er blieb hinter Davenport stehen und betrachtete uns einen Augenblick lang schwer atmend. »Tut mir leid«, sagte er.
    Ein Flugzeug flog über uns dahin, in den Wolken verborgen.
    »Dann ist er tot«, sagte Henry.
    »Leider.«
    Das Brummen des Flugzeugs erstarb in der feuchten, windigen Ferne.
    »Wo war er denn?« fragte Henry schließlich. Er war bleich, bleich und an den Schläfen schweißfeucht, aber völlig gefaßt.
    »Im Wald«, sagte Davenport.
    »Gar nicht weit weg«, sagte Sciola und rieb sich mit dem Fingerknöchel das verquollene Auge. »Eine halbe Meile von hier.«
    »Waren Sie da?«
    Sciola hörte auf, sich das Auge zu reiben. »Was?«
    »Waren Sie da, als man ihn fand?«
    »Wir waren im ›Blue Ben‹ und haben zu Mittag gegessen«, sagte Davenport scharf. Er

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