Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
atmete heftig durch die Nase, und in seinem aschblonden Bürstenhaar saßen Tröpfchen von Kondenswasser wie kleine Perlen. »Dann waren wir unten, um es uns anzusehen. Jetzt wollen wir zu der Familie.«
»Wissen die es noch nicht?« fragte Camilla nach einer Schrekkenspause.
»Nicht deshalb«, sagte Sciola. Er klopfte sich auf die Brust und wühlte dann behutsam mit langen gelben Fingern in der Tasche seines Mantels. »Wir bringen ihnen ein Freigabeformular. Wir möchten ihn gern ins Labor nach Newark schicken, um ein paar Tests machen zu lassen. Aber bei solchen Fällen ...« Seine Hand hatte etwas gefunden. Sehr langsam zog er eine zerknautschte Packung Pall Mall hervor. » ... bei solchen Fällen ist es sehr schwer, die Familie zur Unterschrift zu bewegen. Kann nicht mal sagen,
daß ich’s ihnen verdenke. Die Leute warten jetzt schon eine ganze Woche; die Familie ist mal zusammen, und jetzt wollen sie auch zusehen, daß sie ihn beerdigen und die Sache hinter sich bringen ...«
»Was ist denn passiert?« fragte Henry. »Wissen Sie es?«
Sciola wühlte nach Streichhölzern und zündete seine Zigarette an. »Schwer zu sagen«, meinte er und ließ das brennende Streichholz aus den Fingern fallen. »Er lag unten am Fuß einer Steilwand, mit gebrochenem Hals.«
»Sie glauben nicht, daß er sich vielleicht umgebracht hat?«
Sciolas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber ein Rauchfädchen kräuselte sich aus seiner Nase, das in subtiler Weise seine Überraschung andeutete. »Wie kommen Sie darauf?«
»Weil es drinnen eben jemand gesagt hat.«
Er warf einen Blick zu Davenport hinüber. »Ich würde nicht auf diese Leute achten, mein Junge«, sagte er. »Ich weiß nicht, zu welchem Schluß die Polizei kommen wird, und es ist ihre Entscheidung, wohlgemerkt, aber ich glaube nicht, daß sie auf Selbstmord befinden werden.«
»Warum nicht?«
Er blinzelte uns friedfertig an; seine Augen lagen vorgewölbt unter schweren Lidern wie die einer Schildkröte. »Weil nichts drauf hindeutet«, sagte er. »Soviel ist mir bekannt. Der Sheriff meint, vielleicht war er da draußen unterwegs, war nicht warm genug angezogen, das Wetter wurde schlechter. Vielleicht hat er es einfach so eilig gehabt nach Hause zu kommen ...«
»Und sie wissen’s zwar noch nicht genau«, sagte Davenport, »aber wie es aussieht, hatte er vielleicht getrunken.«
Sciola machte müde eine italienische Geste der Resignation. »Selbst wenn nicht«, sagte er. »Der Boden war schlammig. Es hatte geregnet. Vielleicht war es sogar dunkel – das wissen wir ja nicht.«
Ein paar lange Augenblicke lang sagte niemand etwas.
»Hören Sie, mein Junge«, sagte Sciola nicht unfreundlich. »Es ist bloß meine Meinung, aber wenn Sie mich fragen: Ihr Freund hat sich nicht umgebracht. Ich habe die Stelle gesehen, wo er runtergekippt ist. Das Gestrüpp an der Kante war ganz ...« Er machte eine kraftlos schnappende Bewegung in der Luft.
»Zerrissen«, sagte Davenport brüsk. »Hatte auch Erde unter den Fingernägeln. Als der Junge da runterflog, hat er nach allem gegrabscht, was er erreichen konnte.«
»Niemand will hier sagen, es ist so oder so passiert«, sagte Sciola.
»Ich sage bloß, glauben Sie nicht alles, was Sie hören. Es ist ’ne gefährliche Stelle da oben; man sollte sie einzäunen oder so was ... Vielleicht setzen Sie sich lieber mal ’ne Minute hin, meinen Sie nicht auch, Honey?« sagte er zu Camilla, die ein bißchen grün im Gesicht war.
»Das College ist auf alle Fälle dran«, sagte Davenport. »Nach dem, was ich die Lady im Studentensekretariat habe reden hören, kann ich mir schon vorstellen, wie sie versuchen werden, sich der Haftung zu entziehen. Wenn er sich auf dieser Studentenparty betrunken haben sollte ... Da war vor zwei Jahren ein vergleichbarer Prozeß oben in Nashua, wo ich herkomme. Ein Junge hat sich bei irgend so ’ner Studentenfete vollaufen lassen und ist dann in einer Scheewehe eingeschlafen. Sie haben ihn erst gefunden, als die Schneepflüge durchkamen. Ich schätze, es kommt immer drauf an, wie betrunken sie waren und wo sie ihren letzten Drink gekriegt haben, aber selbst, wenn er nicht betrunken war, sieht es ziemlich böse fürs College aus, nicht? Da ist der Junge in der Schule, hat einen solchen Unfall, auf dem Campus? Bei allem Respekt vor den Eltern, aber ich hab’ sie kennengelernt, und sie sind der Typ, der sofort vor Gericht geht.«
»Was glauben Sie denn, wie es passiert ist?« fragte Henry
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