Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Sciola.
    Diese Art von Fragen fand ich nicht besonders klug, schon gar nicht hier und jetzt; aber Sciola grinste. Es war ein langzahnig hageres Grinsen wie bei einem alten Hund oder einem Opossum – zu viele Zähne, verfärbt, fleckig. »Ich?« sagte er.
    »Ja.«
    Einen Augenblick lang sagte er gar nichts, sondern nahm einen Zug von seiner Zigarette und nickte. »Es kommt nicht drauf an, was ich glaube, mein Junge«, sagte er dann. »Es ist kein FBI-Fall.«
    »Was?«
    »Er meint, die Bundesbehörde ist nicht zuständig«, sagte Davenport scharf. »Hier liegt ja kein Verstoß gegen Bundesgesetze vor. Das muß die Ortspolizei entscheiden. Der Grund, weshalb sie uns hinzugezogen haben, war dieser Irre, wissen Sie, von der Tankstelle, und der hatte nichts damit zu tun, aber bei Typen wie ihm kommt man wirklich ins Grübeln. Ich erinnere mich an Embry Lee Harden, damals im Jahr ’78: scheinbar der netteste Mensch auf der Welt, wie er all die Uhren und so weiter reparierte und sie armen Kindern schenkte. Aber ich werde den Tag nicht vergessen, wo sie mit der Hacke in den Garten hinter seinem Uhrengeschäft gingen  ...«
    »Die jungen Leute erinnern sich nicht an Embry, Harv«, sagte Sciola und ließ die Zigarette fallen. »Das war vor ihrer Zeit.«
    Wir standen noch ein oder zwei Augenblicke unbeholfen im Halbkreis auf den Steinplatten, und gerade als es so aussah, als wolle jeder gleichzeitig den Mund aufmachen und sagen, er müsse nun weiter, da hörte ich einen seltsamen, erstickten Laut von Camilla. Ich sah sie verblüfft an. Sie weinte.
    Einen Moment lang wußte anscheinend keiner, was er tun sollte. Davenport warf Henry und mir einen empörten Blick zu und wandte sich halb ab, als wolle er sagen: Das ist alles eure Schuld.
    Sciola klapperte in konsterniertem Ernst langsam mit den Lidern und streckte zweimal die Hand aus, um sie ihr auf den Arm zu legen; beim dritten Versuch bekamen seine Fingerspitzen endlich Kontakt mit ihrem Ellbogen. »Meine Liebe«, sagte er, »meine Liebe, möchten Sie, daß wir Sie unterwegs zu Hause absetzen?«
    Ihr Auto, ein schwarzer Ford, parkte unten am Hang auf dem Kiesplatz hinter dem Gebäude der Naturwissenschaften. Camilla ging vor den beiden her. Sciola sprach beruhigend mit ihr wie mit einem Kind; wir hörten seine Stimme über den knirschenden Schritten, dem Tropfen des Wassers und dem Säuseln des Windes über uns in den Bäumen. »Ist Ihr Bruder zu Hause?« fragte er.
    »Ja.«
    Er nickte langsam. »Wissen Sie«, sagte er, »ich mag Ihren Bruder. Er ist ein guter Junge. Komisch, aber ich wußte gar nicht, daß ein Junge und ein Mädchen auch Zwillinge sein können. Hast du das gewußt, Harv?« fragte er über ihren Kopf hinweg.
    »Nein.«
    »Ich auch nicht. Waren Sie einander ähnlicher, als Sie klein waren? Ich meine, eine Familienähnlichkeit ist schon vorhanden, aber Sie haben nicht mal genau die gleiche Haarfarbe. Meine Frau, die hat Cousinen, die Zwillinge sind, und sie arbeiten auch beide im Sozialamt.« Er schwieg einen Moment lang friedlich. »Sie und Ihr Bruder, Sie verstehen sich ziemlich gut, nicht wahr?«
    Sie murmelte etwas.
    Er nickte ernst. »Das ist schön«, sagte er. »Ich wette, Sie kennen ein paar interessante Geschichten. Über Psi-Sachen und so. Die Cousinen meiner Frau gehen immer zu diesen Zwillingskongressen, die manchmal veranstaltet werden, und Sie würden nicht glauben, was sie uns nachher immer zu erzählen haben.«
    Weißer Himmel. Bäume verloren sich darin, die Berge waren fort. Meine Hände baumelten aus den Ärmeln meiner Jacke, als
gehörten sie mir nicht. Ich konnte mich nie daran gewöhnen, wie der Horizont dort sich einfach auflösen konnte, so daß man hilflos treibend in einer unvollständigen Traumlandschaft zurückblieb, die aussah wie eine Vorskizze für die Welt, die man kannte – wo die Umrisse eines einzelnen Baums für eine Baumgruppe standen, wo Laternenpfähle und Schornsteine zusammenhangslos aufragten, ehe die Leinwand ringsum ausgemalt war –, ein Land der Amnesie, eine Art verkehrter Himmel, wo die alten Landmarken zwar erkennbar waren, aber zu weit auseinanderlagen, ungeordnet und schrecklich in der Leere, die sie umgab.
    Ein alter Schuh lag auf dem Asphalt vor der Laderampe, wo vor ein paar Minuten der Krankenwagen gestanden hatte. Es war nicht Bunnys Schuh. Ich weiß nicht, wem er gehörte oder wie er da hinkam. Es war einfach ein alter Tennisschuh, der auf der Seite lag. Ich weiß nicht, warum ich mich jetzt daran

Weitere Kostenlose Bücher