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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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in dem Odysseus, von seinen Freunden abgeschnitten, sich allein in feindlichen Gefilden befindet:
    Sei stark, sagt mein Herz; ich bin Soldat;
Ich habe Schlimmeres geseh’n als dies.
    Ich fuhr mit Francis nach Connecticut hinunter. Ich hatte damit gerechnet, daß die Zwillinge mitkommen würden, aber sie fuhren schon einen Tag früher mit Cloke – der zu jedermanns Überraschung eine persönliche Einladung von Mrs. Corcoran selbst erhalten hatte. Wir hatten gedacht, er würde überhaupt nicht eingeladen werden. Nachdem Sciola und Davenport ihn erwischt hatten, wie er versucht hatte, die Stadt zu verlassen, hatte Mrs. Corcoran sich geweigert, auch nur mit ihm zu sprechen. (»Sie will ihr Gesicht wahren«, meinte Francis.) Jedenfalls hatte er eine persönliche Einladung bekommen, und wie er hatten auch – von Henry übermittelt – Clokes Freunde Rooney Wynne und Bram Guernsey eine erhalten.
    Überhaupt hatten die Corcorans eine ganze Reihe Leute aus Hampden eingeladen – Wohnheimnachbarn, Leute, von denen ich gar nicht gewußt hatte, daß Bunny sie kannte. Ein Mädchen namens
Sophie Dearbold, das mit mir im Französischunterricht war, sollte mit Francis und mir hinunterfahren.
    »War Bunny mit ihr besonders befreundet?« fragte ich Francis auf dem Weg zu ihrem Wohnhaus.
    »Ich glaube, gar nicht. Nicht gut jedenfalls. Allerdings war er verknallt in sie, im ersten Jahr. Marion wird es bestimmt überhaupt nicht gefallen, daß sie sie eingeladen haben.«
    Ich hatte befürchtet, daß es eine unbehagliche Fahrt werden würde, aber tatsächlich war es eine wunderbare Erleichterung, in Gesellschaft einer Fremden zu sein. Es machte fast Spaß; das Radio spielte, und Sophie (braune Augen und Sandpapierstimme) hing mit verschränkten Armen über der Lehne der Vordersitze und redete mit uns. Francis war so gut gelaunt, wie ich ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. »Du siehst aus wie Audrey Hepburn«, sagte er zu ihr. »Wußtest du das?« Sie gab uns Kools und Kaugummikugeln mit Zimtgeschmack und erzählte lustige Geschichten. Ich lachte und schaute aus dem Fenster und betete, daß wir die Abfahrt verpassen mochten. Ich war im Leben noch nicht in Connecticut gewesen. Auf einer Beerdigung auch noch nicht.
    Shady Brook lag an einer schmalen Straße, die scharf vom Highway abknickte und sich meilenweit dahinschlängelte, über Brükken und vorbei an Ackerland, Pferdeweiden und Feldern. Nach einer Weile gingen die welligen Hügel in einen Golfplatz über. »Shady Brook Country Club« stand in eingebrannten Lettern auf der Holztafel, die vor dem im Tudorstil erbauten Clubhaus schaukelte. Dahinter fingen die Häuser an – groß, hübsch, weit auseinander, jedes auf sechs, sieben Morgen Land.
    Der Ort war ein Labyrinth. Francis hielt nach Nummern auf den Briefkästen Ausschau, nahm eine falsche Einfahrt nach der anderen, setzte rückwärts wieder hinaus, fluchte, ließ das Getriebe krachen. Es gab keine Schilder, und es lag keine ersichtliche Logik in den Hausnummern, und nachdem wir ungefähr eine halbe Stunde lang blind herumgekurvt waren, begann ich zu hoffen, daß wir es gar nicht finden würden, daß wir einfach umdrehen und fröhlich nach Hampden zurückfahren könnten.
    Aber natürlich fanden wir es doch. Es war ein großes, modernes Haus von architektonischer Extravaganz am Ende einer langen Auffahrt: gebleichtes Zedernholz, die ineinandergeschobenen Etagen und asymmetrischen Terrassen von befangener Kahlheit. Der Vorplatz war mit schwarzer Asche bestreut, und es gab nichts
Grünes außer eine paar Gingko-Bäumen in postmodernen Kübeln, die in weitem Abstand plaziert waren.
    »Wow«, sagte Sophie, ein echtes Hampden-Mädchen, stets pflichtbewußt in ihrer Ehrerbietung gegen alles Neue.
    Ich warf einen Blick zu Francis, und der zuckte die Achseln.
    »Sie mag moderne Architektur«, stellte er fest.
     
    Ich hatte den Mann, der uns die Tür aufmachte, noch nie gesehen, aber mit einem flauen, traumartigen Gefühl erkannte ich ihn sofort. Er war groß und hatte ein rotes Gesicht, ein massiges Kinn und einen dichten weißen Haarschopf. Einen Moment lang starrte er uns an. Dann machte er überraschend jungenhaft und flink einen Satz nach vorn und packte Francis’ Hand. »So», sagte er. »So, so, so.« Seine Stimme klang nasal, zänkisch – Bunnys Stimme. »Wenn das nicht der alte Karottenkopf ist. Wie geht’s dir, Junge?«
    »Ganz gut«, sagte Francis, und ich war ein bißchen überrascht von der Tiefe und

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