Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
kennen glaubte, je weniger man ihn tatsächlich kannte. Aus der Ferne betrachtet, verströmte sein Charakter einen Eindruck von Solidität und Ganzheit,
der in Wirklichkeit so stofflos war wie bei einem Hologramm; aus der Nähe sah man, daß er aus Stäubchen und Licht bestand und daß man mit der Hand hindurchgreifen konnte. Aber wenn man weit genug zurücktrat, schaltete die Illusion sich wieder ein, und dann stand er da, überlebensgroß, blinzelte einen hinter seinen kleinen Brillengläsern an und harkte sich mit einer Hand eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn.
Ein Charakter wie der seine zerfällt in der Analyse. Definieren läßt er sich nur durch die Anekdote, die Zufallsbegegnung, den mitgehörten Satz. Leute, die nie mit ihm gesprochen hatten, erinnerten sich plötzlich mit schmerzlicher Zuneigung, daß sie gesehen hatten, wie er einem Hund das Stöckchen geworfen oder wie er aus dem Garten eines Lehrers Tulpen gestohlen hatte. »Er hat das Leben der Menschen berührt«, sagte der College-Präsident, und dabei beugte er sich vor und umfaßte die Balustrade am Rednerpodium mit beiden Händen, und auch wenn er exakt den gleichen Satz auf exakt die gleiche Weise zwei Monate später in einer Gedächtnisandacht wiederholen sollte (die junge Studentin hatte mit einer einfachen Rasierklinge schließlich mehr Erfolg als mit den giftigen Beeren), so war es doch zumindest in Bunnys Fall sonderbar wahr. Er berührte das Leben der Leute, das Leben Fremder, auf eine völlig unvorhergesehene Weise. Sie waren es, die ihn – oder das, für was sie ihn hielten – wirklich betrauerten, und zwar mit einem Schmerz, der nicht weniger brennend war, weil er mit seinem Gegenstand nicht vertraut war.
In dieser Unwirklichkeit seines Charakters, in seiner Cartoonhaftigkeit, wenn man so will, lag das Geheimnis seiner Anziehungskraft, und sie machte seinen Tod letzten Endes so traurig. Wie jeder große Komödiant gab er seiner Umgebung Farbe, wohin er auch ging; jetzt, im Tode, wurde er zu einem alten, vertrauten Witzbold, der – überraschend wirkungsvoll – eine tragische Rolle zu spielen hatte.
Als es schließlich taute, verging der Schnee so schnell, wie er gekommen war. Binnen vierundzwanzig Stunden war alles weg, abgesehen von ein paar hübschen, schattigen Flecken im Wald – wo weiß gehäkelte Zweige Regenlöcher in die Kruste tröpfelten – und den grauen Matschbergen am Straßenrand. Der Rasen vor dem Commons erstreckte sich weit und trostlos wie ein napoleonisches Schlachtfeld – aufgewühlt, schmutzig, zerfurcht von Fußspuren.
Es war eine seltsame, zersplitterte Zeit. In den Tagen vor der Beerdigung sahen wir uns nicht oft. Die Corcorans hatten Henry nach Connecticut entführt; Cloke, der mir dicht am Rande eines Nervenzusammenbruchs zu stehen schien, zog ungebeten bei Charles und Camilla ein, wo er sixpackweise Grolsch-Bier trank und dann mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern auf der Couch einschlief. Ich selbst sah mich von Judy Poovey und ihren Freundinnen Tracy und Beth belagert. Zu den Mahlzeiten kamen sie mich regelmäßig abholen (»Richard«, sagte Judy und langte über den Tisch, um mir die Hand zu drücken, »du mußt essen«), und in der übrigen Zeit war ich der Gefangene irgendwelcher kleinen Unternehmungen, die sie für mich planten – wir fuhren ins Autokino und mexikanisch essen, oder wir gingen zu Tracy nach Hause, tranken Margaritas und guckten MTV. Gegen das Autokino hatte ich nichts, aber auf die endlose Parade von Nachos und Drinks auf Tequilabasis hätte ich verzichten können. Sie waren verrückt nach einem Zeug, das sie Kamikaze nannten, und sie färbten ihre Margaritas gern in einem grausigen Blitzblau.
Tatsächlich war ich oft froh über ihre Gesellschaft. Bei all ihren Fehlern war Judy eine freundliche Seele, und sie war so bestimmend und redselig, daß ich mich bei ihr seltsam sicher fühlte. Beth mochte ich nicht. Sie war Tänzerin und kam aus Santa Fé; sie hatte ein Gummigesicht, kicherte dauernd idiotisch und kriegte überall Grübchen, wenn sie lächelte. In Hampden galt sie als so etwas wie eine Schönheit, aber ich verabscheute ihren schlaksigen Spanielgang und ihre – wie ich fand, sehr affektierte – Kleinmädchenstimme, die nicht selten zu einem Wimmern verkam. Manchmal, wenn sie sich entspannte, bekam sie einen blicklosen Gesichtsausdruck, der mich nervös machte. Tracy war großartig. Sie war hübsch, Jüdin, hatte ein verwirrendes
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