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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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gekommen ist.«
    »Was für eine Schmach ist das?«
    »Oἶνoς«, sagte er ungeduldig. »Φάϱμακα. Sie sucht zu zeigen, daß sein Körper keinen Wein enthält.« (Und hier bediente er sich einer sehr eleganten und ganz unübersetzbaren Metapher: Der Bodensatz im leeren Weinschlauch seines Leibes ... )
    »Und warum, sag, liegt ihr daran?«
    »Weil ein großes Gerede ist unter den Bürgern. Es ist schmählich für einen jungen Mann, in Trunkenheit zu sterben.«
    Das stimmte, zumindest was das Gerede anging. Mrs. Corcoran, die sich bisher jedem zur Verfügung gestellt hatte, der ihr zuhören wollte, war erbost über die wenig schmeichelhafte Lage, in der sie sich jetzt befand. Die ersten Artikel, in denen sie als »gut gekleidet« und »hinreißend«, die Familie aber als »perfekt« geschildert worden waren, hatten anzüglichen und unterschwellig anklagenden Schlagzeilen à la MOM BEHAUPTET: MEIN JUNGE NICHT weichen müssen. Auch wenn eine arme Bierflasche der einzige Hinweis darauf war, daß Alkohol im Spiel gewesen sein könnte, und von Rauschgift überhaupt nicht die Rede sein konnte, wiesen in den Abendnachrichten jetzt Psychologen daraufhin, daß Suchttendenzen häufig von den Eltern an die Kinder weitergegeben
wurden. Es war ein harter Schlag. Als Mrs. Corcoran Hampden verließ, durchschritt sie das Gedränge ihrer alten Freunde, der Reporter, mit abgewandtem Blick, die Zähne zu einem strahlenden, haßerfüllten Lächeln zusammengebissen.
    Freilich, es war unfair. Wenn man den Berichten glauben wollte, mußte man Bunny für das Klischee eines »Drogenabhängigen« oder »auf die schiefe Bahn geratenen Teenagers« halten. Dabei kam es nicht die Spur darauf an, daß jeder, der ihn gekannt hatte (uns eingeschlossen: Bunny war kein jugendlicher Straftäter), dies alles bestritt. Es war gleichgültig, daß bei der Autopsie nur ein minimaler Blutalkoholgehalt und überhaupt kein Rauschgift ermittelt wurde, und es war egal, daß er überhaupt kein Teenager mehr gewesen war: Die Gerüchte – die wie die Geier über seinem Leichnam am Himmel kreisten – hatten sich endlich herabgesenkt und ihre Klauen in ihn geschlagen. Ein Artikel, in dem die Resultate der Autopsie ausführlich wiedergegeben wurden, erschien ganz hinten im Hampden Examiner. Aber in der College-Folklore lebt er als schwankender bcrauschtcr Teenager weiter; in dunklen Räumen wird für die Erstsemester noch immer sein bierdunstiger Geist heraufbeschworen, zusammen mit den enthaupteten Autounfallopfern und der jungen Studentin, die sich in Putnam House auf dem Speicher erhängte, und all den übrigen aus dem Schattenheer der Toten von Hampden.
     
    Die Beerdigung war für Mittwoch angesetzt. Am Montag morgen fand ich zwei Umschläge in meinem Postfach; einer war von Henry, der andere von Julian. Ich öffnete den von Julian zuerst; er war in New York abgestempelt und hastig geschrieben, mit der roten Tinte, die er zum Korrigieren unserer Griechischarbeiten verwandte.
    Lieber Richard, wie unglücklich bin ich heute morgen, und ich weiß, ich werde es noch viele Male sein. Die Nachricht vom Tode unseres Freundes hat mich zutiefst betrübt. Ich weiß nicht, ob Sie versucht haben, mich zu erreichen; ich war nicht da, mir war nicht wohl, und ich bezweifle, daß ich vor der Beerdigung noch nach Hampden zurückkommen werde ...
    Wie traurig, zu denken, daß wir diesen Mittwoch zum letztenmal alle zusammen sein werden. Ich hoffe, dieser Brief findet Sie wohlauf. Er bringt Ihnen meine Liebe.
    Unten standen seine Initialen.
    Henrys Brief aus Connecticut war gestelzt wie ein Kryptogramm von der Westfront.
    Lieber Richard, es geht Dir hoffentlich gut. Seit mehreren Tagen bin ich nun im Hause der Corcorans. Obgleich ich das Gefühl habe, ihnen weniger Trost zu sein, als sie in ihrer Trauer um den Verlust vielleicht glauben, haben sie mir doch erlaubt, ihnen in vielen kleinen Haushaltsdingen zu helfen.
    Mr. Corcoran hat mich gebeten, an Bunnys Freunde in der Schule zu schreiben und ihnen seine Einladung zu übermitteln, die Nacht vor der Beerdigung in seinem Hause zu verbringen. Wie ich höre, sollst Du im Keller einquartiert werden. Wenn es nicht Dein Plan ist, zugegen zu sein, rufe bitte Mrs. Corcoran an und laß es sie wissen. Ich freue mich darauf, Dich bei der Beerdigung – wenn nicht schon vorher – wiederzusehen.
    Eine Unterschrift fehlte, aber statt dessen stand da ein Zitat aus der Ilias in griechischer Sprache.
    Es stammte aus dem elften Buch,

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