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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Lächeln und neigte dazu, sich wie Mary Tyler Moore die Arme um die Schultern zu schlingen oder sich mit ausgestreckten Armen im Kreis zu drehen. Alle drei rauchten eine Menge, erzählten lange, langweilige Geschichten (»Also, echt, dann stand unser Flugzeug fünf Stunden lang auf der Rollbahn ...«) und redeten über Leute, die ich nicht kannte. Mir als geistesabwesenden Hinterbliebenem stand es frei, friedlich aus dem Fenster zu starren. Aber manchmal hatte ich sie auch satt, und wenn ich über Kopfschmerzen klagte oder sagte, ich wolle schlafen gehen, dann pflegten Tracy und Beth in wohlpräparierter Eile zu verschwinden, und da saß ich dann, allein mit Judy. Sie meinte es vermutlich gut, aber die Art Trost, die sie mir gern bieten wollte,
fand ich nicht besonders ansprechend, und nach zehn oder zwanzig Minuten allein mit ihr war ich wieder bereit für jede beliebige Menge Margaritas und MTV bei Tracy.
    Francis war als einziger von uns allen ungestört und kam gelegentlich vorbei, um mich zu besuchen. Manchmal traf er mich allein an; wenn nicht, setzte er sich steif auf meinen Schreibtischstuhl und tat, als studiere er – nach Henrys Art – meine Griechischbücher, bis sogar die begriffsstutzige Tracy den Wink verstand und sich verzog. Sobald die Tür sich geschlossen hatte und er Schritte auf der Treppe hörte, klemmte er den Finger zwischen die Seiten und klappte das Buch zu, und dann beugte er sich aufgeregt blinzelnd vor. Unsere Hauptsorge um diese Zeit war die Autopsie, die Bunnys Familie beantragt hatte; wir waren schockiert, als Henry uns von Connecticut aus informierte, daß eine vorgenommen werden sollte; er schlich sich eines Nachmittags aus dem Haus der Corcorans, um Francis von einer Telefonzelle aus anzurufen. Über ihm knatterten die Fahnen und die gestreiften Markisen eines Gebrauchtwagenmarktes, und im Hintergrund toste der Highway. Er hatte gehört, wie Mrs. Corcoran zu Mr. Corcoran gesagt hatte, es sei das beste so, und andernfalls (Henry schwor, daß er es genau gehört hatte) werde man es nie genau wissen.
    Was immer man sonst über die Schuld sagen kann, sie verleiht einem jedenfalls eine diabolische Phantasie; ich brachte zwei oder drei der schlimmsten Nächte, die ich in diesem Zusammenhang oder sonst je erlebt habe, damit zu, daß ich betrunken wach lag, einen scheußlichen Tequilageschmack im Mund, und mir Sorgen wegen Kleiderfasern, Fingerabdrücken, Haarsträhnen machte. Über Autopsien wußte ich nur, was ich in den Wiederholungen von »Quincy« gesehen hatte, aber irgendwie kam ich nicht auf die Idee, meine Informationen könnten unzutreffend sein, weil sie aus einer Fernsehserie stammten. Recherchierten die solche Sachen denn nicht sorgfältig? Hatten die bei den Dreharbeiten nicht einen beratenden Arzt dabei? Ich richtete mich auf und schaltete das Licht an. Mein Mund war gespenstisch blau gefleckt. Als mir im Bad die Drinks wieder hochkamen, waren sie brillantfarben und völlig klar, ein Schwall von pulsierendem, ätzendem Türkis, der aussah wie der blaue Wasserzusatz im Spülkasten.
    Aber Henry, der die Corcorans ja ungehindert bei ihnen zu Hause beobachten konnte, hatte bald herausbekommen, was da vorging. Francis brannte derart ungeduldig darauf, seine Freudennachricht an den Mann zu bringen, daß er nicht einmal wartete, bis
Tracy und Judy gegangen waren, sondern mir in schlampig ausgesprochenem Griechisch sofort alles erzählte, derweil die süße tranige Tracy sich laut darüber wunderte, daß wir zu einer solchen Zeit unbedingt weiter für die Schule arbeiten wollten.
    »Fürchte nichts«, sagte er zu mir. »Es ist die Mutter. Sie ist besorgt wegen der Unehre ihres Sohnes, die dem Weingenuß entspringt.«
    Ich verstand nicht, was er meinte. Das Wort für »Unehre«, das er benutzte (ἀτιμία), bedeutete auch »Verlust der Bürgerrechte«. »Atimia?« wiederholte ich also.
    »Ja.«
    »Aber Rechte sind für lebende Menschen, nicht für die Toten.«
    »Oἴμoι«, sagte er kopfschüttelnd. »O weh. Nein. Nein.«
    Er zerbrach sich den Kopf und schnippte mit den Fingern, während Judy und Tracy interessiert zuschauten. Ein Gespräch in einer toten Sprache zu führen, ist schwieriger, als Sie vielleicht denken. »Es hat viele Gerüchte gegeben«, sagte er schließlich. »Die Mutter trauert. Nicht um ihren Sohn«, fügte er hastig hinzu, als er sah, daß ich etwas sagen wollte, »denn sie ist eine schlechte Frau. Doch sie trauert wegen der Schmach, die auf ihr Haus

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