Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
umgeben war – ich mit meinen ungeschickten Händen und meinen Vorstadtmanieren.
Als sie Griechisch sprach, klang ihre Stimme rauh und dunkel und wundervoll.
So liegt er da, und seine Seele würgt er aus.
Und wie er ausbricht einen scharfen Schwall von Blut,
Mit dunklem Sprühn purpurnen Taues trifft er mich.
Und minder nicht bin ich erheitert als die Saat,
Die unter gottgesandter Feuchte Keime treibt.
Es folgte ein kurzes Schweigen, als sie geendet hatte, und zu meiner Überraschung zwinkerte Henry ihr feierlich über den Tisch hinweg zu.
Julian lächelte. »Was für eine schöne Stelle«, sagte er. »Sie wirkt noch immer wie beim ersten Mal auf mich. Aber wie kommt es, daß etwas so Gräßliches – eine Königin, die ihren Gemahl im Bad ersticht – uns so wunderbar vorkommt?«
»Es ist das Versmaß«, sagte Francis. »Jambischer Trimeter. Die wirklich grausigen Teile des Inferno zum Beispiel, mit Pier da Medicina, dem die Nase angehackt ist und der durch einen blutigen Schlitz in der Luftröhre spricht ...«
»Ich kann mir Schlimmeres vorstellen«, sagte Camilla.
»Das kann ich auch. Aber diese Passage ist schön, und das liegt an der terza rima. An ihrer Musik. Der Trimeter läutet in der Rede der Klytämnestra wie eine Glocke.«
»Aber der jambische Trimeter ist in der griechischen Dichtung ziemlich verbreitet, nicht wahr?«« sagte Julian. »Warum ist diese spezielle Stelle so atemberaubend? Warum finden wir etwas Ruhigeres oder Freundlicheres nicht anziehender?«
»Aristoteles sagt in der Poetik «, meinte Henry, »daß Gegenstände wie Leichen, die an sich schmerzlich zu betrachten sind, in einem Kunstwerk mit Genuß beschaubar werden können.«
»Und ich glaube, Aristoteles hat recht. Schließlich – welche Szenen aus der Dichtung haben sich uns am tiefsten ins Gedächtnis gegraben, welche lieben wir am meisten? Genau diese. Die Ermordung des Agamemnon, der Zorn des Achilles. Dido auf dem Scheiterhaufen. Die Dolche der Verräter und Caesars Blut – erinnern Sie sich, wie Suetonius den Leichnam schildert, der auf der Bahre fortgetragen wird, während ein Arm herunterbaumelt?«
»Der Tod ist die Mutter der Schönheit«, sagte Henry.
»Und was ist Schönheit?«
»Grauen.«
»Gut gesagt«, stellte Julian fest. »Schönheit ist selten sanft oder tröstlich. Ganz im Gegenteil. Echte Schönheit ist immer durchaus erschreckend.«
Ich sah Camilla an, ihr Gesicht, das von der Sonne überstrahlt war, und ich mußte an die Zeile aus der Ilias denken, die ich so sehr liebe, wo von Pallas Athene die Rede ist und ihren schrecklichen strahlenden Augen.
»Und wenn Schönheit Grauen ist«, fuhr Julian fort, »was ist dann Sehnsucht? Wir glauben, wir haben viele Sehnsüchte, aber tatsächlich ist es nur eine. Welche?«
»Zu leben«, sagte Camilla.
»Ewig zu leben«, sagte Bunny, das Kinn in die flache Hand gestützt.
Der Teekessel fing an zu pfeifen.
Als die Tassen auf dem Tisch standen und Henry, feierlich wie ein Mandarin, den Tee eingeschenkt hatte, redeten wir über die verschiedenen Arten des Wahnsinns, den die Götter herbeiführen: den poetischen, den prophetischen und schließlich den dionysischen.
»Der bei weitem der geheimnisvollste ist«, sagte Julian. »Wir sind es gewohnt, uns die religiöse Ekstase als etwas vorzustellen, was man nur bei primitiven Gesellschaften vorfindet, obgleich sie häufig bei den kultiviertesten Völkern vorkommt. Die Griechen, wissen Sie, waren eigentlich nicht sehr viel anders als wir. Sie waren sehr förmliche Menschen, außergewöhnlich zivilisiert, voller Verdrängungen. Dennoch wurden sie häufig en masse von wildester Verzückung erfaßt – in Tanz, Raserei, Gemetzel, Visionen -, die uns vermutlich als klinischer Wahnsinn erscheinen würde, irreversibel und final. Aber die Griechen – manche jedenfalls - konnten sich nach Belieben hineinstürzen und wieder daraus
hervorkommen. Wir können die Berichte darüber nicht vollständig in den Bereich des Mythos verweisen. Sie sind sehr gut dokumentiert, auch wenn die antiken Kommentatoren diesen Phänomenen ebenso ratlos gegenüberstanden wie wir. Manche meinen, sie seien das Ergebnis von Fasten und Beten gewesen, andere vermuten, sie seien durch Alkohol herbeigeführt worden. Sicher hatte auch die Hysterie als Gruppenphänomen etwas damit zu tun. Trotzdem ist es schwierig, das extreme Ausmaß solcher Erscheinungen zu erklären. Die Tobenden wurden offenbar in einen nichtrationalen,
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