Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Francis, wie ich fand, in gelangweiltem Ton, während er Camilla den Stuhl zurechtrückte und sich dann selbst setzte.
»Wunderbar. Charles, würden Sie das Teewasser aufsetzen?«
Charles ging in einen kleinen Vorraum, nicht größer als ein Wandschrank, und ich hörte Wasser laufen. (Mir ist es bis heute ein Rätsel, was sich in diesem Vorraum befand oder wie Julian es gelegentlich fertigbrachte, Vier-Gänge-Mahlzeiten daraus hervorzuzaubern.) Dann kam Charles heraus, schloß die Tür hinter sich und nahm Platz.
»Also«, sagte Julian und sah sich am Tisch um, »ich nehme an, wir sind alle bereit, die Welt der Phänomene zu verlassen und ins Sublime vorzudringen?«
Er war ein wunderbarer Redner, ein magischer Redner, und ich wünschte, ich könnte hier eine bessere Vorstellung von dem vermitteln, was er sagte, aber für einen mittelmäßigen Intellekt ist es unmöglich, die Reden eines Überlegenen wiederzugeben – erst recht nach so vielen Jahren –, ohne daß bei der Übersetzung ein großer Teil verlorengeht. Die Diskussion an diesem Tag drehte sich um den Verlust des Ich, um Platons vierfachen göttlichen Wahnsinn, um Wahnsinn jeder Art, und Julian fing an, indem er von dem sprach, was er die Bürde des Ich nannte und weshalb viele Menschen das Ich überhaupt loswerden wollten.
»Warum quält uns diese hartnäckige kleine Stimme in unserem
Kopf so sehr?« fragte er und schaute in die Runde. »Vielleicht, weil sie uns daran erinnert, daß wir leben, an unsere Sterblichkeit, an unsere Seele – die aufzugeben wir letzten Endes doch viel zuviel Angst haben und die wir gleichwohl mehr leiden lassen als irgend etwas anderes? Aber ist es nicht der Schmerz, der uns unser Selbst oft am klarsten bewußt sein läßt? Es ist schrecklich, wenn ein Kind lernt, daß es ein von der Welt getrenntes Wesen ist, daß niemand und nichts Schmerz empfindet, wenn es selbst sich die Zunge verbrennt oder das Knie aufschürft, und daß Schmerz und Leid nur ihm selbst gehören. Und schrecklicher noch ist es, wenn wir älter werden und lernen, daß niemand, sosehr wir ihn auch lieben mögen, uns je wirklich verstehen kann. Unser eigenes Ich macht uns überaus unglücklich, und deshalb sind wir so erpicht darauf, es zu verlieren – glauben Sie nicht auch? Erinnern Sie sich an die Erinnyen?«
»Die Furien«, sagte Bunny, dessen staunende Augen halb unter der Haarsträhne verborgen waren.
»Richtig. Wie trieben sie die Menschen in den Wahnsinn? Sie ließen die Stimme des Ich anschwellen, verstärkten im Keim vorhandene Eigenschaften ins Extrem, machten die Menschen so sehr zu sich selbst, daß sie es nicht mehr ertragen konnten.
Und wie können wir dieses zum Wahnsinn treibende Ich loswerden, völlig loswerden? Durch Liebe? Ja, aber wie der alte Kephalos einst Sophokles sagen hörte: Die wenigsten von uns wissen, daß die Liebe eine grausame und schreckliche Herrin ist. Man verliert sich selbst um des anderen willen, aber gerade dadurch wird man zum elenden Sklaven des launischsten aller Götter. Durch Krieg? Man kann sich in der Begeisterung der Schlacht verlieren, im Kampf für eine glorreiche Sache – aber es gibt nicht mehr so viele glorreiche Sachen, für die man heutzutage kämpfen könnte. Blutvergießen ist etwas Schreckliches«, fuhr Julian fort, »aber die blutrünstigsten Stellen bei Homer und Aischylos sind oft die prachtvollsten – beispielsweise die herrliche Rede der Klytämnestra in Agamemnon, die ich so sehr liebe ... Camilla, Sie waren unsere Klytämnestra, als wir die Oresteia aufführten; haben Sie noch etwas davon behalten?«
Das Licht vom Fenster schien ihr direkt ins Gesicht; in so starker Helligkeit sehen die meisten Leute ein wenig ausgewaschen aus, aber ihre klaren, feinen Züge erstrahlten bei dieser Beleuchtung nachgerade, so daß es schließlich ein Schock war, sie anzusehen, ihre hellen, leuchtenden Augen mit den schwarzen Wimpern, den goldenen Glimmer an ihren Schläfen, der nach und nach in ihr
glänzendes honigwarmes Haar überging. »Noch ein bißchen«, sagte sie.
Sie schaute auf einen Punkt an der Wand über meinem Kopf und begann, den Text zu rezitieren. Ich starrte sie an. Ob sie einen Freund hatte – Francis vielleicht? Er und sie gingen ziemlich vertraut miteinander um, aber Francis sah nicht aus wie einer, der allzu großes Interesse an Mädchen hatte. Nicht, daß ich besonders große Chancen gehabt hätte, wo sie doch derart von klugen reichen Knaben in dunklen Anzügen
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