Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
unsichtbare Welt, die alten Götter, zu verleugnen.
Emotion, Dunkelheit, Barbarei.« Er schaute für einen Augenblick an die Decke, und sein Gesicht war beinahe besorgt. »Sie erinnern sich an das, was wir vorhin besprachen – daß blutrünstige, schreckliche Dinge oft die schönsten sind?« sagte er. »Es ist eine sehr griechische Idee, und eine sehr profunde dazu. Schönheit ist Schrecken. Was immer wir schön nennen, wir erzittern davor. Und was könnte schrecklicher und schöner sein, für Seelen wie die der Griechen oder unsere, als die Kontrolle über uns restlos zu verlieren? Die Ketten des Daseins für einen Augenblick abzuwerfen, die Zufälligkeit unseres sterblichen Ich zu zerschlagen? Euripides spricht von den Maenaden: die Köpfe zurückgeworfen, die Kehle den Sternen zugewandt, ›eher Rehen gleich denn menschlichen Wesen‹. Absolut frei zu sein! Man ist natürlich durchaus in der Lage, diese destruktiven Leidenschaften auf vulgärere und weniger sinnvolle Arten auszutoben. Aber wie herrlich ist es, sie in einem einzigen Schwall freizugeben! Zu singen, zu schreien, mitten in der Nacht barfuß im Wald zu tanzen, der Sterblichkeit so wenig sich bewußt wie ein Tier! Das sind machtvolle Mysterien. Das Brüllen der Stiere. Honigquellen, die murmelnd aus dem Boden springen. Wenn wir in unseren Seelen stark genug sind, können wir den Schleier abreißen und dieser nackten, schrecklichen Schönheit ins Gesicht schauen; mag Gott uns verzehren, verschlingen, unsere Knochen brechen. Und uns dann ausspucken, wiedergeboren.«
    Wir alle saßen regungslos vorgebeugt da. Mein Unterkiefer war heruntergeklappt, und ich war mir jedes einzelnen Atemzugs bewußt.
    »Und das ist für mich die schreckliche Verführung des dionysischen Rituals. Für uns schwer vorstellbar. Das Feuer reinen Seins.«
     
    Nach dem Unterricht ging ich wie im Traum nach unten; in meinem Kopf drehte sich alles, aber ich war mir schmerzhaft bewußt, daß ich lebendig und jung und wie herrlich der Tag war; der Himmel war von tiefem, tiefem, peinigendem Blau, und im Wind zerstoben rote und gelbe Blätter zu einem Wirbel von Konfetti.
    Schönheit ist Schrecken. Was immer wir schön nennen, wir erzittern davor .
    An diesem Abend schrieb ich in mein Tagebuch: »Die Bäume sind jetzt schizophren und fangen an, die Kontrolle zu verlieren, rasend vom Schock über die feurigen neuen Farben. Jemand – war es van Gogh? – sagte, Orange sei die Farbe des Wahnsinns. Schönheit
ist Schrecken . Wir wollen verschlungen werden von ihr, wollen uns verbergen in jenem Feuer, das uns läutert.«
     
    Ich ging ins Postzimmer (blasierte Studenten, business as usual ) und bekritzelte, immer noch unnatürlich benommen, eine Ansichtskarte an meine Mutter – feuriger Ahorn, ein Bergbach. Eine Notiz auf der Rückseite riet: »Planen Sie jetzt Ihre Reise zum Herbsturlaub in Vermont zwischen dem 25. September und 15. Oktober, wenn es hier am prächtigsten ist .«
    Als ich sie in den Briefkasten steckte, sah ich Bunny auf der anderen Seite des Zimmers; er hatte mir den Rücken zugewandt und musterte die Reihe der numerierten Postfächer. Es war anscheinend meine eigene Box, vor der er stehenblieb und etwas hineinschob. Verstohlen richtete er sich wieder auf und ging rasch hinaus, die Hände in den Taschen und mit flatternden Haaren.
    Ich wartete, bis er weg war, und ging zu meinem Postfach. Darin fand ich einen cremefarbenen Umschlag – aus dickem Papier, knisternd und sehr formell, aber die Handschrift war krakelig und kindlich wie die eines Fünfjährigen. Bunny hatte mit Bleistift geschrieben, winzig, ungleichmäßig und schwer entzifferbar.
    Richard, Mein Alter,
    Was hältst du davon, Wenn Wir Samstag zusammen essen, vielleicht um 1? Ich kenne da ein Tolles kleines Lokal. Mit Cocktails und allem Drum und Dran. Auf meine Rechnung. Bitte komm.
    Dein Bun
     
    PS: Zieh eine Krawatte an. Ich bin Sicher, das hättest du sowieso gemacht, aber die zerren sonst ein grausiges Ding aus der Kiste und die MUSST du dann tragen, wenn nicht.
    Ich studierte den Brief, steckte ihn in die Tasche und wollte hinausgehen, als ich fast mit Dr. Roland zusammengestoßen wäre, der eben zur Tür hereinkam. Erst schien er gar nicht zu wissen, wer ich war. Aber als ich schon dachte, ich sei davongekommen, setzte sich die knarrende Maschinerie seines Gesichtes in Bewegung, und die Pappkulisse mit der Dämmerung des Erkennens wurde ruckartig aus dem staubigen Proszenium herabgesenkt.
    »Tag, Dr.

Weitere Kostenlose Bücher