Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
präintellektuellen Zustand zurückgestürzt, in dem die Persönlichkeit durch etwas völlig anderes ersetzt wurde – und mit ›anders‹ meine ich etwas allem Anschein nach Nichtsterbliches. Etwas Unmenschliches.«
Ich dachte an die Bakchai , ein Stück, das mir mit seiner wilden Gewalttätigkeit Unbehagen bereitete, ebenso wie der Sadismus seines mörderischen Gottes. Verglichen mit den anderen Tragödien, die von erkennbaren Grundsätzen der Gerechtigkeit regiert wurden – mochten sie noch so grausam sein –, war es ein Triumph der Barbarei über die Vernunft: dunkel, chaotisch, unerklärlich.
»Wir geben es nicht gern zu«, sagte Julian, »aber die Vorstellung, die Kontrolle zu verlieren, ist für Menschen, die sich wie wir unter Kontrolle haben, faszinierender als kaum etwas sonst. Alle wahrhaft zivilisierten Völker, die antiken nicht weniger als wir, haben sich zivilisiert, indem sie das alte, animalische Ich willentlich unterdrückten. Unterscheiden wir hier in diesem Zimmer uns wirklich so sehr von den Griechen oder den Römern? Die so besessen waren von Pflicht, Frömmigkeit, Loyalität, Opfermut? Von all dem, was dem modernen Geschmack ein solches Frösteln bereitet?«
Ich schaute in die Runde der sechs Gesichter am Tisch. Dem modernen Geschmack mochten sie in der Tat ein leises Frösteln bereiten.
»Und es ist eine Verlockung für jede intelligente Person, vor allem für Perfektionisten wie die Alten und uns, das primitive, emotionale, triebhafte Ich zu töten. Aber das ist ein Fehler.«
»Warum?« fragte Francis und beugte sich ein Stück vor.
Julian zog eine Braue hoch; die lange, weise Nase verlieh seinem Profil eine leichte Vorwärtsneigung, wie bei einem Etrusker auf einem Relief. »Weil es gefährlich ist, die Existenz des Irrationalen zu ignorieren. Je kultivierter ein Mensch ist, je intelligenter, je beherrschter, desto nötiger braucht er eine Methode, die primitiven
Impulse zu kanalisieren, an deren Abtötung er so hart arbeitet. Sonst werden diese machtvollen alten Kräfte sich sammeln und erstarken, bis sie mächtig genug sind, um hervorzubrechen, um so ungezügelter, je länger sie verdrängt worden sind, und oft sind sie dann wuchtig genug, den Willen völlig fortzuschwemmen. Als Warnung vor dem, was geschieht, wenn ein solches Druckventil fehlt, haben wir das Beispiel der Römer. Denken Sie zum Beispiel an Tiberius, den häßlichen Stiefsohn, der sich bemüht, dem Befehl seines Stiefvaters Augustus gerecht zu werden. Denken Sie an die gewaltige, an die unglaubliche Belastung, der er sich unterzogen haben muß, als er in die Fußstapfen eines Erlösers, eines Gottes trat. Das Volk haßte ihn. Sosehr er sich auch bemühen mochte, er war nie gut genug, konnte niemals sein verhaßtes Ich loswerden – und schließlich brach der Damm. Er wurde von seinen eigenen Perversionen davongespült, und er starb alt und wahnsinnig, verloren in den Lustgärten Capris – nicht einmal dort glücklich, wie man hoffen möchte, sondern im Elend. Vor seinem Tod schrieb er einen Brief an den Senat. ›Mögen alle Götter und Göttinnen mich mit einer Vernichtung heimsuchen, die furchtbarer noch ist als die, welche täglich ich erleide.‹ Und denken Sie an die, die nach ihm kamen. Caligula. Nero.«
Nach einer Pause sprach er weiter. »Der Genius Roms, und vielleicht auch sein Makel, lag in der Sucht nach Ordnung. Man sieht sie in ihrer Architektur, in ihrer Literatur, in ihren Gesetzenihr wildes Leugnen der Dunkelheit, der Unvernunft, des Chaos.« Er lachte. »Leicht verständlich, weshalb die Römer, die für gewöhnlich gegen fremde Religionen so tolerant waren, die Christen plötzlich gnadenlos verfolgten – was für eine absurde Vorstellung, daß ein gewöhnlicher Krimineller von den Toten auferstanden sein sollte, und wie abstoßend, daß seine Anhänger ihn feierten, indem sie sein Blut tranken. Das Unlogische daran erschreckte sie, und sie taten alles, was in ihrer Macht stand, um es zu vernichten. Ja, ich glaube, der Grund dafür, daß sie so drastische Schritte unternahmen, bestand darin, daß sie nicht nur davor erschraken, sondern sich auch auf schreckliche Weise davon angezogen fühlten. Pragmatiker sind oft seltsam abergläubisch. Bei all ihrer Logik – wer lebte denn in größerer Furcht vor dem Übernatürlichen als die Römer?
Die Griechen waren anders. Sie hatten eine Leidenschaft für Ordnung und Symmetrie, ganz wie die Römer, aber sie wußten, wie töricht es war, die
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