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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Séance.
    Die Leute trotteten mit flatternden Kleidern zu ihren Autos und hielten ihre Hüte fest; ein paar Schritte vor mir kämpfte Camilla auf den Zehenspitzen mit ihrem Schirm, der sie in kleinen Trippelschrittchen voranzerrte – Mary Poppins in schwarzem Trauerkleid. Ich lief ein bißchen schneller, um ihr zu helfen, aber bevor ich sie erreichte, schlug der Schirm um. Einen Augenblick lang führte er ein grausiges Eigenleben; er kreischte und flatterte mit seinen stacheligen Schwingen wie ein Pterodaktylos. Mit einem jähen spitzen Aufschrei ließ sie ihn los, und sofort segelte er drei Meter hoch in die Luft und überschlug sich ein- oder zweimal, bevor er sich in den hohen Ästen einer Esche verfing.
    »Verdammt«, sagte sie, schaute hinauf zu dem Schirm und dann auf ihren Finger; aus einem dünnen Riß rann Blut. »Verdammt, verdammt, verdammt.«
    »Alles okay?«
    Sie steckte den verletzten Finger in den Mund. »Das ist es nicht«, sagte sie mißmutig und schaute hinauf in den Baum. »Aber der Schirm ist von meiner Großmutter.«
    Ich wühlte in meiner Tasche und gab ihr mein Taschentuch. Sie schüttelte es aus und hielt es an ihren Finger (weißes Flattern, verwehtes Haar, dunkler Himmel ), und als ich es sah, blieb die Zeit stehen, und ich war durchbohrt von der gleißenden Klinge der Erinnerung; der Himmel war von dem gleichen gewittrigen Grau wie an jenem Tag, neue Blätter, die Haare waren ihr über den Mund geweht, genauso wie jetzt ...
    (weißes Flattern)
    ( ... an der Schlucht. Sie war mit Henry hinuntergeklettert und vor ihm wieder oben, wo wir anderen an der Kante warteten, kalter Wind, Nervenzittern, herbeispringen, um sie hochzuziehen; tot? ist er ... ? Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich die Erde von den Händen, ohne einen von uns richtig anzusehen; ihr Haar wehte hell vor dem Himmel nach hinten, und ihr Gesicht war ausdruckslos und ohne alle Emotion, die man vielleicht hätte zeigen mögen  ... )
    Hinter uns sagte jemand sehr laut: »Dad?«
    Ich fuhr hoch, erschrocken und schuldbewußt. Es war Hugh. Er lief schnell, rannte fast, und einen Augenblick später hatte er seinen Vater eingeholt. »Dad?« sagte er noch einmal und legte seinem Vater die Hand auf die hängende Schulter. Es kam keine Reaktion. Er schüttelte ihn sanft. Vor uns waren die Sargträger dabei (unter ihnen undeutlich erkennbar Henry), den Sarg durch die offene Klappe in den Leichenwagen zu schieben.
    »Dad«, sagte Hugh; er war ungeheuer erregt. »Dad. Du mußt mir einen Augenblick zuhören.«
    Die Wagentüren wurden zugeschlagen. Langsam, sehr langsam, drehte Mr. Corcoran sich um. Er trug das Baby auf dem Arm, das sie Champ nannten. Ein gehetzter, verlorener Ausdruck lag auf dem großen schlaffen Gesicht. Er starrte seinen Sohn an, als habe er ihn noch nie gesehen.
    »Dad «, sagte Hugh. »Rate mal, wen ich gerade gesehen habe. Rate mal, wer gekommen ist. Mr. Vanderfeller «, sagte er drängend und drückte den Arm seines Vaters.
    Die Silben dieses illustren Namens – den die Corcorans mit fast ebenso viel Respekt anriefen wie den des Allmächtigen Gottes – hatten, laut ausgesprochen, eine wunderbar heilende Wirkung auf Mr. Corcoran. »Vanderfeller ist hier?« fragte er und sah sich um. »Wo?«
    Diese erhabene Persönlichkeit, die im kollektiven Unbewußten der Corcorans eine herausragende Position einnahm, war das Oberhaupt einer wohltätigen Stiftung – ins Leben gerufen von dem noch erhabeneren Großpapa –, die zufällig einen entscheidenden Anteil am Kapital von Mr. Corcorans Bank hielt. Dies brachte Vorstandssitzungen und gelegentliche gesellschaftliche Ereignisse mit sich, und die Corcorans verfügten über einen endlosen Vorrat von »entzückenden« Anekdoten über Paul Vanderfeller: wie »europäisch« er sei und wie bekannt für seinen »Witz«, und obgleich die »geistreichen« Bemerkungen, die sie bei jeder Gelegenheit wiederholten, mir kläglich vorkamen (das Wachpersonal an der College-Einfahrt oben in Hampden war witziger), wollten sich die Corcorans ausschütten vor urbanem und anscheinend völlig aufrichtigem Gelächter. Eine von Bunnys Lieblingseinleitungen für einen Satz hatte darin bestanden, daß er ganz beiläufig fallenließ: »Als mein Dad neulich mit Paul Vanderfeller zum Mittagessen ging ...«
    Und hier war er nun, der große Mann höchstselbst, und versengte uns alle mit den Strahlen seiner Glorie. Ich warf einen Blick in die Richtung, die Hugh Corcoran seinem

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