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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Kommentar, ein kurzes Gedicht von A. E. Housman vor.
    Das Gedicht hieß »Mein Herz ist voller Wehmut«. Keine Ahnung, warum er sich ausgerechnet dieses ausgesucht hatte. Wir wußten, daß die Corcorans ihn gebeten hatten, etwas vorzutragen, und vermutlich hatten sie darauf vertraut, daß er etwas Passendes wählen werde. Es wäre ihm doch sicher ein leichtes gewesen, etwas anderes zu finden; Herrgott, man hätte meinen mögen, er würde irgend etwas aus dem Lykidas oder aus den Upanischaden oder
sonstwoher nehmen – jedenfalls nicht dieses Gedicht, das Bunny auswendig gekonnt hatte. Bunny hatte die kitschigen alten Gedichte, die er in der Schule gelernt hatte, sehr gern gehabt – »Der Angriff der leichten Brigade«, »In Flanders Fields«, lauter seltsames, sentimentales altes Zeug, von dem ich nicht einmal Autor oder Titel kannte. Wir anderen, die wir in solchen Dingen Snobs waren, hatten dies für eine schändliche Geschmacklosigkeit gehalten, vergleichbar mit seiner Vorliebe für süße Schokoriegel und Waffeln. Oft hatte ich gehört, wie Bunny dieses Housman-Gedicht laut aufsagte – ernsthaft, wenn er betrunken war, und eher spöttisch, wenn nüchtern -, so daß die Verse für mich in den Klang seiner Stimme gegossen und darin erstarrt waren; vielleicht erwachte deshalb, als ich sie jetzt hörte – in Henrys akademischer monotoner Sprechweise, umgeben von blakenden Kerzen, einem Luftzug, der die Blumen zittern ließ, und den Leuten, die ringsum weinten – ein so kurzer und doch entsetzlicher Schmerz wie von einer dieser gespenstisch ausgeklügelten japanischen Foltern, die darauf geeicht sind, in allerkürzester Zeit größtmögliches Elend hervorzurufen.
    Es war ein sehr kurzes Gedicht.
    Mein Herz ist voller Wehmut, denk’ ich
An gold’ne Freunde, die ich hatt’,
An manche Maid mit Rosenlippen,
An manchen Knaben, flink und glatt.
     
    An Wassern, die zu breit zum Sprunge,
Die flinken Knaben heute ruhn,
Und wo die Rosen welken, schlummern
Die rosenlipp’gen Maiden nun.
    Während des (überlangen) Schlußgebets merkte ich, daß ich schwankte, so heftig, daß die Ränder meiner neuen Schuhe sich in die empfindliche Stelle unter den Fußknöcheln gruben. Die Luft war stickig; Leute weinten, und ein beharrliches Summen klang dicht an meinem Ohr und wich wieder zurück. Dann erkannte ich, daß das Summen von einer dicken Wespe kam, die in ziellosen Zickzack- und Kreisbahnen über unseren Köpfen herumflog. Francis hatte mit seiner Gottesdienstbroschüre nutzlos herumgefuchtelt und sie damit wütend gemacht; nun stieß sie auf den Kopf der weinenden Sophie herunter, aber als diese nicht reagierte, ließ sie sich auf der Lehne der Bank nieder, um wieder zu sich zu
kommen. Verstohlen lehnte Camilla sich zur Seite und fing an, ihren Schuh auszuziehen, aber bevor sie fertig war, hatte Charles sie mit dem Gebetbuch erschlagen, daß es hallend klatschte.
    Der Pastor, der eben an einer entscheidenden Stelle seines Sermons angelangt war, schrak auf. Er öffnete die Augen, und sein Blick fiel auf Charles, der das schuldige Gebetbuch noch in der erhobenen Faust hielt. »› Auf daß sie nicht jammern in unnützem Schmerz ‹«, fuhr er mit leichtem Nachdruck fort, »›und trauern wie jene, die keine Hoffnung haben, sondern stets aufblicken in ihren Tränen zu Dir ... ‹«
    Hastig senkte ich den Kopf. Die Wespe klebte mit einem schwarzen Fühler an der Kante der Banklehne. Ich starrte sie an und dachte an Bunny, den armen Bunny, den erfahrenen Vernichter fliegenden Ungeziefers, wie er mit einem zusammengerollten Exemplar des Hampden Examiner auf Fliegenjagd ging.
     
    Charles und Francis, die bis zum Gottesdienst nicht miteinander gesprochen hatten, hatten sich in seinem Verlauf irgendwie wieder als Freunde versöhnt. Nach dem letzten Amen verdrückten sie sich in stummem, vollkommenem Einvernehmen in einen leeren Korridor am Seitenschiff. Ich sah, wie sie wortlos hineinliefen und dann auf der Herrentoilette verschwanden; Francis warf noch einen letzten nervösen Blick zurück und griff bereits in seine Manteltasche: Ich wußte, was darin war – eine flache Halbliterflasche, die er aus dem Handschuhfach genommen hatte.
    Es war ein matschiger, düsterer Tag draußen auf dem Friedhof. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war finster, und es war sehr windig. Jemand läutete die Kirchenglocke, aber er machte seine Sache nicht besonders gut; sie bimmelte unregelmäßig hin und her wie eine Glocke bei einer

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