Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Visine-Röhrchen ragte ein kleines Stück weit aus der Brusttasche seines Anzugs.
Sie sahen alle mächtig zugedröhnt aus. Der arme Charles hatte Glubschaugen und schwitzte. Das hier war wahrscheinlich mehr,
als er sich vorgestellt hatte: grelles Licht und er selbst viel zu high, und dann eine Konfrontation mit einer genervten Erwachsenen.
Sie sah ihn an. Ich fragte mich, ob sie Bescheid wußte. Einen Moment lang dachte ich, sie werde etwas sagen, aber statt dessen packte sie Brandon beim Arm.
»Na, ihr solltet euch jetzt alle ein bißchen beeilen«, meinte sie und beugte sich herunter, um dem Jungen mit der Hand durch das zerzauste Haar zu fahren. »Es wird spät, und ich habe den Eindruck, daß es womöglich Probleme mit den Sitzplätzen geben wird.«
Die Kirche war im Jahr siebzehnhundertnochwas erbaut; so stand es im National Register of Historic Places. Es war ein altersschwarzes, gewölbeartiges Gebäude mit einem eigenen, holprigen kleinen Friedhof, der hinter der Kirche an einer welligen Landstraße lag.
Als wir ankamen, waren wir von den nassen Sitzen in Francis’ Wagen unangenehm feucht. Autos, etwas schief in den grasbewachsenen Graben geneigt, säumten die Straße zu beiden Seiten wie bei einem Dorftanz oder einem Bingo-Abend. Ein grauer Nieselregen war im Gange. Wir parkten am Country Club, der ein Stück weit unten lag, und wanderten schweigend die Viertelmeile durch den Matsch zurück.
Die Kirche war matt erleuchtet; beim Eintreten blendete mich Kerzenglanz. Als meine Augen sich an die Umgebung gewöhnt hatten, sah ich eiserne Laternen, kaltfeuchte Steinplatten, Blumen überall. Verblüfft bemerkte ich, daß eines der Blumengebinde in der Nähe des Altars die Form der Zahl 27 hatte. »Ich dachte, er war vierundzwanzig«, flüsterte ich Camilla zu.
»Nein«, sagte sie, »das ist seine alte Footballnummer.«
In der Kirche war es rappelvoll. Ich suchte Henry, sah ihn aber nicht; dann erblickte ich jemanden, den ich für Julian hielt, aber als er sich umdrehte, erkannte ich, daß er es nicht war. Einen Augenblick lang standen wir ratlos zusammengedrängt da. An der hinteren Wand standen stählerne Klappstühle für die Leute, aber dann entdeckte einer von uns eine halbleere Bank, und wir nahmen Kurs darauf: Francis und Sophie, die Zwillinge und ich. Charles hielt sich dicht bei Camilla; er war offensichtlich kurz davor auszuflippen. Die düstere Horrorhausatmosphäre der Kirche machte die Sache nicht besser, und er starrte mit unverhohlenem Entsetzen in die Runde. Camilla nahm seinen Arm und
steuerte ihn sanft in die Bank. Marion hatte sich zu ein paar Leuten aus Hampden gesetzt, und Cloke und Bram und Rooney waren irgendwo zwischen Auto und Kirche einfach verschwunden.
Es war ein langer Gottesdienst. Der Pfarrer, der seine Worte aus der Predigt über die Liebe im ersten Korintherbrief des hl. Paulus bezog, redete etwa eine halbe Stunde lang. (»Fanden Sie diesen Text nicht höchst unangemessen?« fragte Julian später; er hatte die düstere Einstellung des Heiden zum Tode, gepaart mit einem Grauen vor allem Unpassenden.) Als nächstes kam Hugh Corcoran (»Er war der beste kleine Bruder, den man haben kann«), und dann Bunnys alter Football-Coach, ein dynamischer Typ, der ausgiebig von Bunnys Teamgeist redete und eine aufwühlende Anekdote darüber erzählte, wie Bunny einmal ein Spiel gegen eine besonders rauhe Mannschaft aus dem »unteren« Connecticut (»Das heißt gegen eine schwarze Mannschaft«, wisperte Francis) gerettet hatte. Am Ende seiner Ansprache schwieg er und starrte auf das Pult; er schien bis zehn zu zählen und blickte dann mit offenem Ausdruck auf. »Ich weiß nicht besonders viel über den Himmel«, sagte er. »Mein Beruf besteht darin, den Jungen beizubringen, wie man ein Spiel spielt und wie man es hart spielt. Heute sind wir hier, um einen Jungen zu ehren, der schon früh aus dem Spiel genommen wurde. Aber das soll nicht heißen, daß er uns nicht alles gegeben hat, was er hatte , als er noch auf dem Spielfeld war. Das soll nicht heißen, daß er kein Sieger ist.« Eine lange, spannungsreiche Pause. »Bunny Corcoran«, sagte er dann bärbeißig, »war ein Sieger.«
Ich weiß nicht, ob ich außer im Kino je einen so bravourösen Auftritt gesehen habe. Als er sich setzte, war die halbe Gemeinde in Tränen aufgelöst, er selbst eingeschlossen. Niemand achtete mehr besonders auf den letzten Redner: Henry selbst. Er stieg auf das Podium und las, unhörbar und ohne
Weitere Kostenlose Bücher