Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
teilen kann), und mit Freude zu sehen, wie die Sterne der Empathie in ihren freundlichen Augen erblühten; ihren süßen Wunsch zu spüren, mich vor mir selbst zu retten (und, oh, meine Liebe, dachte ich, wenn du wüßtest, was für eine Aufgabe du da übernähmst, wenn du es nur wüßtest!) – und dabei zu wissen, wenn ich mit ihr nach Hause gehen wollte, dann könnte ich es tun.
Ich tat es aber nicht. Denn ich brauchte weder Gesellschaft noch Trost. Ich wollte nur allein sein.
Nach der Party ging ich nicht auf mein Zimmer, sondern in Dr. Rolands Büro; ich wußte, daß niemand auf die Idee kommen würde, mich dort zu suchen. Abends und an den Wochenenden war es wunderbar ruhig, und als wir aus Connecticut zurück waren, verbrachte ich viel Zeit dort – las, schlief auf seiner Couch, tat seine Arbeit und meine eigene.
Zu dieser Nachtzeit waren sogar die Hausmeister nicht mehr da. Das Gebäude lag im Dunkeln. Ich schloß die Bürotür hinter mir ab. Die Lampe auf Dr. Rolands Schreibtisch warf einen warmen, buttergelben Lichtkreis, und nachdem ich im Radio leise einen Klassiksender aus Boston eingestellt hatte, ließ ich mich mit meiner Französischgrammatik auf der Couch nieder. Später, wenn ich müde würde, gäbe es noch einen Kriminalroman und eine Tasse Tee, falls ich Lust darauf hätte. Dr. Rolands Bücherregale leuchteten warm und geheimnisvoll im Lampenschein. Obwohl ich nichts Unrechtes tat, war es irgendwie, als schliche ich mich umher, als führte ich ein heimliches Leben, das, so angenehm es auch war, früher oder später über mir zusammenbrechen würde.
Bei den Zwillingen herrschte immer noch Zwietracht. Ich hatte das Gefühl, die Schuld liege bei Charles, der mürrisch und verschlossen war und – was in letzter Zeit der Normalzustand war – ein bißchen mehr trank, als gut für ihn war. Francis behauptete, nichts darüber zu wissen, aber ich ahnte, daß er mehr wußte, als er sagte.
Mit Henry hatte ich seit der Beerdigung nicht mehr gesprochen; ich hatte ihn nicht einmal gesehen. Er kam nicht zum Essen und ging nicht ans Telefon. Samstag mittag bei Tisch fragte ich: »Ob mit Henry alles in Ordnung ist?«
»Oh, dem geht’s prima«, sagte Camilla und hantierte geschäftig mit Messer und Gabel.
»Woher weißt du das?«
Sie schwieg einen Moment lang, und ihre Gabel verharrte auf halber Höhe in der Luft; ihr Blick war wie ein Lichtstrahl, der mir plötzlich ins Gesicht leuchtete. »Weil ich ihn gerade erst gesehen habe.«
»Wo?«
»In seiner Wohnung. Heute morgen«, sagte sie und wandte sich wieder ihrem Teller zu.
»Und wie geht es ihm?«
»Okay. Ein bißchen zittrig noch, aber ganz okay.«
Neben ihr hatte Charles das Kinn auf die Hand gestützt und starrte düster auf sein unberührtes Essen.
Keiner der Zwillinge erschien an diesem Tag zum Abendessen. Francis war redselig und guter Laune. Er kam eben aus Manchester zurück und war mit Einkaufstüten bepackt, und er zeigte mir nacheinander seine Einkäufe: Jacken, Strümpfe, Hosenträger, ein halbes Dutzend verschieden gestreifte Hemden, ein fabelhaftes Sortiment von Krawatten, von denen eine – eine grünbronzene Seidenkrawatte mit mandarinefarbenen Punkten – ein Geschenk für mich war.
In der Buchhandlung war er auch gewesen. Er hatte eine Biographie von Cortez, eine Übersetzung von Gregor von Tours, eine Studie über viktorianische Mörderinnen, erschienen bei der Harvard University Press. Auch für Henry hatte er ein Geschenk gekauft: einen Band mit mykenischen Inschriften aus Knossos.
Ich schaute ihn mir an; es war ein gewaltiges Buch. Es enthielt keinen Text, sondern nur Fotos über Fotos von zerbrochenen Tafeln, deren Inschriften – in Linear-B – darunter im Faksimile
reproduziert waren. Auf manchen der Fragmente stand nur ein einziges Schriftzeichen.
»Das wird ihm gefallen«, sagte ich.
»Ja, das glaube ich auch«, meinte Francis. »Es war das langweiligste Buch, das ich finden konnte. Ich dachte mir, ich bringe es ihm nach dem Essen vorbei.«
»Vielleicht komme ich mit«, sagte ich.
Francis zündete sich eine Zigarette an. »Kannst du, wenn du willst. Ich gehe aber nicht rein. Ich werde es einfach vor die Tür legen.«
»Ach so, na dann«, sagte ich und war merkwürdig erleichtert.
Ich verbrachte den ganzen Sonntag in Dr. Rolands Büro, von zehn Uhr morgens an. Gegen elf Uhr abends wurde mir klar, daß ich den ganzen Tag nichts zu mir genommen hatte, nichts als Kaffee und ein paar Kekse aus
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