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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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dem Büro; also packte ich meine Sachen zusammen, schloß ab und ging hinunter, um zu sehen, ob der »Rathskeller« noch offen war.
    Er war. »The Rat« gehörte zur Snackbar; das Essen war überwiegend miserabel, aber es gab zwei Flipperautomaten und eine Musicbox, und wenn man auch keine richtigen Drinks bekam, kriegte man doch für nur sechzig Cent einen Plastikbecher verwässertes Bier.
    An diesem Abend war es laut und sehr voll dort. »The Rat« machte mich nervös. Für Leute wie Judd und Frank, die dort waren, sobald der Laden öffnete, war es der Dreh- und Angelpunkt des Universums. Jetzt waren sie auch da; sie beherrschten einen Tisch voll begeisterter Arschkriecher und Mitläufer und spielten mit dem Schaum des Wohlbehagens vor dem Mund irgendein Spiel, das anscheinend unter anderem erforderte, daß sie versuchten, sich gegenseitig eine Glasscherbe in die Hand zu stechen.
    Ich drängte mich ganz nach vorn und bestellte ein Stück Pizza und ein Bier. Während ich darauf wartete, daß die Pizza aus dem Ofen kam, sah ich Charles, der allein am Ende der Theke hockte.
    Ich sagte hallo, und er drehte sich halb zu mir um. Er war betrunken; ich sah es an der Art, wie er dasaß: nicht in einer an sich trunkenen Haltung, aber so, als habe eine andere – träge, verdrossene - Person von seinem Körper Besitz ergriffen. »Oh«, sagte er. »Gut. Du bist das.«
    Ich fragte mich, was ihn in diesen gräßlichen Laden trieb, wo er
allein am Tresen saß und schlechtes Bier trank, während er zu Hause einen ganzen Schrank voll vom besten Schnaps hatte, den er sich nur wünschen konnte.
    Er sagte etwas, aber bei der Musik und dem Gebrüll konnte ich ihn nicht verstehen. »Was?« fragte ich und beugte mich zu ihm hinüber.
    »Ich sagte, kannst du mir Geld leihen?«
    »Wieviel?«
    Er zählte etwas an seinen Fingern ab. »Fünf Dollar.«
    Ich gab sie ihm. Er war nicht so betrunken, daß er imstande gewesen wäre, es ohne wiederholte Entschuldigungen und Rückzahlungsversprechen anzunehmen.
    »Ich hatte am Freitag noch zur Bank gehen wollen«, sagte er.
    »Schon okay.«
    »Nein, wirklich.« Behutsam holte er einen zerknüllten Scheck aus der Tasche. »Den hat meine Nana mir geschickt. Ich kann ihn Montag einlösen. Kein Problem.«
    »Keine Sorge«, sagte ich. »Was machst du eigentlich hier?«
    »Wollte ’n bißchen raus.«
    »Wo ist Camilla?«
    »Weiß nicht.«
    Er war noch nicht so betrunken, daß er nicht allein nach Hause gekommen wäre; aber das »Rat« schloß erst in zwei Stunden, und der Gedanke, ihn allein hier sitzen zu lassen, gefiel mir nicht. Andererseits hatte ich auch keine Lust, in dieser Kaschemme herumzuhängen, bis Charles bereit war zu gehen. Jeder Versuch, ihn hinauszuziehen, das wußte ich, würde freilich nur dazu führen, daß er sich noch entschlossener hier festsetzte; wenn er betrunken war, hatte er eine perverse Art, immer das Gegenteil dessen zu wollen, was irgend jemand vorschlug.
    »Weiß Camilla, daß du hier bist?« fragte ich.
    Er lehnte sich herüber und stützte sich dabei mit der flachen Hand auf den Tresen. »Was?«
    Ich wiederholte meine Frage, lauter diesmal. Sein Gesicht verdüsterte sich. »Geht sie nichts an«, sagte er und wandte sich wieder seinem Bier zu.
    Mein Essen kam. Ich zahlte und sagte zu Charles: »Entschuldige, ich bin gleich wieder da.«
    Das Männerklo lag an einem klammen, übelriechenden Korridor, der im rechten Winkel zur Theke verlief. Ich bog dort ein, so daß Charles mich nicht mehr sehen konnte, und ging zu dem
Münztelefon an der Wand. Aber da stand ein Mädchen und unterhielt sich auf deutsch. Ich wartete eine Ewigkeit und wollte gerade wieder gehen, als sie endlich auflegte; ich wühlte in meiner Tasche nach einem Vierteldollar und wählte die Nummer der Zwillinge. Aber es meldete sich niemand. Ich wählte noch einmal und sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach elf. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo Camilla um diese Zeit sein sollte – es sei denn, sie war unterwegs, um Charles abzuholen.
    Ich legte auf. Die Münze fiel klimpernd unten ins Fach. Ich steckte sie ein und ging zu Charles an die Bar zurück. Einen Moment lang dachte ich, er sei irgendwo im Gedränge verschwunden, aber gleich darauf war mir klar, daß ich ihn nicht sah, weil er nicht da war. Er hatte sein Bier ausgetrunken und war gegangen.
     
    Hampden war plötzlich wieder grün wie das Paradies. Die meisten Blüten hatte der Schnee vernichtet, von den spätblühenden Pflanzen wie Geißblatt und

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