Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Draußen war es fast dunkel. Durch die Wand hörte ich die Anlage meines Nachbarn: David Bowie: »This is ground control to Major Tom ...«
Ich starrte zu den Schatten an der Decke hinauf.
In einem fremden Land zwischen Traum und Wachsein sah ich mich auf einem Friedhof, nicht auf dem, wo Bunny begraben worden war, sondern auf einem anderen, viel älteren und sehr berühmten – überzogen von Hecken und Immergrün, und überall rissige Marmorpavillons, die unter den Ranken erstickten. Ich ging einen schmalen gepflasterten Weg entlang. Als ich um eine Ecke bog, streiften die weißen Blüten einer Hortensie – eine leuchtende Blumenwolke, die unerwartet blaß im Halbdunkel schwebte – meine Wange.
Ich suchte das Grab eines berühmten Schriftstellers – Marcel Proust vielleicht, oder George Sand. Wer immer es war, ich wußte, er oder sie war hier begraben, aber es war alles so überwuchert, daß ich kaum die Namen auf den Steinen entziffern konnte, und außerdem wurde es dunkel.
Dann befand ich mich auf dem Gipfel einer Anhöhe in einem dunklen Kiefernhain; tief unter mir lag ein von Qualm und Rauch
erfülltes Tal. Ich drehte mich um und schaute den Weg entlang, den ich gekommen war: ein Stachelwald von Marmortürmchen, düsteren Mausoleen, fahl in der zunehmenden Dunkelheit. Weit unten kam ein kleines Licht – eine Laterne vielleicht oder eine Taschenlampe - zwischen den dichtgedrängten Grabsteinen hindurch hüpfend auf mich zu. Ich beugte mich vor, um besser zu sehen, und hörte erschrocken ein Krachen im Gestrüpp hinter mir.
Es war das Baby, das die Corcorans Champ nannten. Es war der Länge nach hingefallen und versuchte, taumelnd auf die Beine zu kommen; aber nach kurzer Zeit gab es auf und blieb still liegen, barfuß, zitternd, und sein Bauch hob und senkte sich. Es trug nichts als eine Windelhose aus Plastik und hatte häßliche Schrammen an Armen und Beinen. Sprachlos starrte ich es an. Die Corcorans waren gedankenlos, aber das hier war unfaßbar: Diese Monster, dachte ich, diese Schwachsinnigen – sie sind einfach abgehauen und haben es ganz allein hiergelassen .
Das Baby wimmerte; die Beinchen waren blaufleckig von der Kälte. Eine fette Seesternhand umklammerte ein Plastikflugzeug. Ich bückte mich, um nachzusehen, ob ihm irgend etwas fehlte, doch da hörte ich ganz in der Nähe ein gekünsteltes, demonstratives Räuspern.
Was dann passierte, ging blitzschnell. Als ich mich umschaute, sah ich nur die allerflüchtigste Impression der Gestalt hinter mir, aber schon dieser kurze Blick ließ mich aufschreien und nach rückwärts taumeln, und ich fiel und fiel und fiel, bis ich schließlich in meinem eigenen Bett landete, das mir aus der Dunkelheit entgegenkam. Der Ruck schüttelte mich wach. Zitternd blieb ich einen Moment lang flach auf dem Rücken liegen; dann tastete ich nach der Nachttischlampe. Tisch, Tür, Stuhl. Ich ließ mich zurücksinken, immer noch zitternd. Die Gesichtszüge waren verklebt, zerkratzt und dick verkrustet gewesen, so daß ich mich selbst bei Licht nicht gern an sie erinnerte – und doch hatte ich sehr genau gewußt, wer es war, und im Traum hatte ich gewußt, daß ich es wußte.
Nach dem, was wir in den vergangenen Wochen durchgemacht hatten, war es kein Wunder, daß wir alle ein bißchen die Nase voll hatten voneinander. In den nächsten Tagen blieb jeder meist für sich, außer im Unterricht und beim Essen; nachdem Bun tot und begraben war, hatten wir vermutlich sehr viel weniger Gesprächsstoff und keinen Grund mehr, bis vier oder fünf Uhr morgens aufzubleiben.
Ich fühlte mich seltsam frei. Ich machte Spaziergänge, ging allein ins Kino und am Freitag abend auf eine Party außerhalb des Campus, wo ich bei irgendeinem Lehrer zu Hause auf der hinteren Veranda stand und Bier trank und hörte, wie ein Mädchen einem anderen Mädchen etwas über mich zuflüsterte. »Er sieht so traurig aus, findest du nicht?« Es war eine klare Nacht mit Grillen und einer Million Sternen. Das Mädchen war hübsch – der strahlende, übersprudelnde Typ, auf den ich stehe. Sie fing ein Gespräch an, und ich hätte mit ihr nach Hause gehen können; aber es war genug, einfach zu flirten, auf jene zarte, unsichere Art, wie tragische Figuren es im Kino tun (der Kriegsveteran mit dem Granatentrauma oder der brütende junge Witwer, der sich hingezogen fühlt zu der jungen Fremden, indes von einer dunklen Vergangenheit heimgesucht wird, die sie in ihrer Unschuld nicht mit ihm
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