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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hatte –, war es keine gute Nacht für ihn gewesen. Er sei nicht hungrig, sagte er, aber er brachte matt ein paar Schluck Orangensaft herunter. Der Rest des koscheren Weins war, wie ich sah, im Laufe der Nacht verschwunden.
    »Wie fühlst du dich?« fragte ich ihn.
    Er ließ den Kopf auf dem zerdrückten Kissen herumrollen. »Kopfschmerzen«, sagte er. »Ich hab’ von Dante geträumt.«
    »Alighieri?«
    »Ja.«
    »Was denn?«
    »Wir waren bei den Corcorans«, murmelte er. »Dante war auch da. Er hatte einen fetten Freund im karierten Hemd dabei, der uns anbrüllte.«
    Ich maß seine Temperatur; es waren glatte achtunddreißig Grad, deutlich weniger also, aber immer noch ein bißchen hoch für die frühe Stunde. Ich gab ihm noch ein paar Aspirin und schrieb ihm meine Nummer in Dr. Rolands Büro auf, falls er mich anrufen wollte; aber als ihm klar wurde, daß ich gehen wollte, drehte er den Kopf herum und warf mir einen so benommenen und hoffnungslosen Blick zu, daß ich erschrocken innehielt.
    »Oder – ich könnte auch hierbleiben«, sagte ich. »Das heißt, falls es dich nicht stört.«
    Er stemmte sich auf den Ellbogen hoch. Seine Augen waren blutunterlaufen und glänzten stark. »Geh nicht«, sagte er. »Ich hab’ Angst. Bleib ein bißchen hier.«
    Dann bat er mich, ihm vorzulesen, aber ich hatte nur meine Griechischbücher da, und er wollte nicht, daß ich in die Bibliothek ging. Also spielten wir Euchre auf einem Lexikon, das er auf dem Schoß balancierte, und als sich das als etwas schwierig erwies, wechselten wir zu Casino über. Er gewann die ersten beiden Spiele. Dann fing er an zu verlieren. In der letzten Runde – er mußte geben – mischte er die Karten so schlecht, daß sie in buchstäblich gleicher Reihenfolge erneut verteilt wurden, was das Spiel nicht gerade zu einer Herausforderung werden ließ; aber er spielte derart geistesabwesend, daß er einfach nichts zustande brachte. Als ich bei einem Griff nach den Karten einmal seine Hand berührte, fühlte ich erschrocken, wie heiß und trocken sie sich anfühlte. Und obwohl es warm im Zimmer war, fröstelte ihn. Ich maß noch einmal seine Temperatur. Sie war wieder auf neununddreißigfünf hinaufgeschossen.
    Ich lief nach unten, um Francis anzurufen, aber weder er noch Henry waren zu Hause. Also ging ich wieder hinauf. Es gab keinen Zweifel: Charles sah schrecklich aus. Ich blieb in der Tür stehen und sah ihn an; dann sagte ich: »Warte mal einen Augenblick«, und ich ging den Gang hinunter zu Judys Zimmer.
    Sie lag auf ihrem Bett und sah sich einen Mel-Gibson-Film auf
einem Videorecorder an, den sie aus der Videoabteilung entliehen hatte. Irgendwie schaffte sie es, sich gleichzeitig die Fingernägel zu lackieren, eine Zigarette zu rauchen und eine Diät-Coke zu trinken.
    »Guck dir Mel an«, sagte sie. »Ist er nicht entzückend? Wenn er anrufen und mich fragen würde, ob ich ihn heirate: Ich würd’s machen, echt sofort.«
    »Judy, was würdest du machen, wenn du vierzig Grad Fieber hättest?«
    »Scheiße, ich würde zum Arzt gehen«, sagte sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
    Ich berichtete von Charles. »Er ist wirklich krank«, sagte ich. »Was meinst du, was soll ich machen?«
    Sie fächelte mit einer rot bekrallten Hand in der Luft, um den Nagellack zu trocknen, und ihr Blick blieb starr auf den Fernseher gerichtet. »Bring ihn zur Notaufnahme.«
    »Meinst du?«
    »Du wirst am Sonntag nachmittag keinen Arzt finden. Willst du meinen Wagen nehmen?«
    »Das wäre toll.«
    »Schlüssel sind auf dem Tisch«, sagte sie abwesend. »’bye.«
     
    Ich fuhr Charles mit der roten Corvette ins Krankenhaus. Mit glänzenden Augen saß er still da und blickte geradeaus, die rechte Wange an die kühle Scheibe gelehnt. Im Wartezimmer blätterte ich in Illustrierten, die ich schon kannte, und er saß bewegungslos da und starrte auf ein verblichenes Farbfoto auf einem Plakat aus den sechziger Jahren: Eine Kranlcenschwester drückte einen Finger mit weißem Nagel gegen einen mit weißem Lippenstift geschminkten, unbestimmt pornographisch aussehenden Mund – eine sexy wirkende Aufforderung, sich im Krankenhaus leise zu verhalten.
    Es war eine Ärztin, die Dienst hatte. Sie war nur fünf bis zehn Minuten bei Charles gewesen, als sie mit seiner Karte von hinten zurückkam; sie lehnte sich über die Theke und besprach sich kurz mit der Krankenschwester an der Aufnahme, die zu mir herüberdeutete.
    Die Ärztin kam heran und setzte sich zu mir. Sie

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