Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Francis.
    »Ich glaube, es wäre einfacher, wenn wir ihm eine neue kauften. Da ist das Risiko nicht so groß, daß sie ausläuft und alles durchtränkt. Und wenn wir eine von diesen flachen Flaschen besorgen, kann er sie ohne Schwierigkeiten unter dem Kopfkissen verwahren.«
     
    Es nieselte an diesem Vormittag; der Himmel war bedeckt und grau. Henry fuhr nicht mit ins Krankenhaus. Er ließ sich unter irgendeinem Vorwand vor seiner Wohnung absetzen, und als er ausstieg, gab er mir einen Hundertdollarschein.
    »Hier«, sagte er. »Grüß ihn herzlich von mir. Kaufst du ihm ein paar Blumen oder so was?«
    Ich starrte den Schein an und war einen Moment lang sprachlos. Francis riß ihn mir aus der Hand und streckte ihn Henry entgegen. »Jetzt komm schon, Henry«, sagte er, und seine Verärgerung überraschte mich. »Hör auf damit.«
    »Ich möchte, daß ihr es behaltet.«
    »Genau . Wir sollen ihm für hundert Dollar Blumen kaufen.«
    »Vergeßt nicht, am Schnapsladen vorbeizufahren«, sagte Henry kalt. »Mit dem Rest des Geldes könnt ihr machen, was ihr wollt. Gebt ihm einfach das Wechselgeld, wenn ihr wollt. Das ist mir egal.«
    Er drückte mir das Geld wieder in die Hand und schloß die Wagentür mit einem Klicken, das verächtlicher klang, als wenn er die Tür zugeschlagen hätte. Ich starrte seinen steifen, breiten Rükken an, als er den Weg hinaufging.
     
    Wir kauften Whiskey – eine flache Flasche Cutty Sark –, einen Korb Obst, eine Schachtel Petits fours und ein chinesisches Brettspiel, und statt im Blumenladen in der Stadt den Tagesbestand an Nelken aufzukaufen, erstanden wir eine Oncidium-Orchidee, gelb mit braunen Tigerstreifen, in einem roten Tontopf.
    Auf der Fahrt zum Krankenhaus fragte ich Francis, was am Wochenende passiert sei.
    »Es regt mich zu sehr auf. Ich will jetzt nicht darüber reden«, sagte er. »Ich habe sie gesehen. Bei Henry drüben.«
    »Wie geht’s ihr?«
    »Gut. Sie wirkt ein bißchen zerstreut, aber im Grunde ganz okay. Sie sagte, sie wollte nicht, daß Charles weiß, wo sie ist, und damit hatte sich’s. Ich hätte zu gern allein mit ihr gesprochen, aber natürlich hat Henry nicht für eine Sekunde das Zimmer verlassen.« Rastlos wühlte er in seiner Tasche nach einer Zigarette. »Das klingt vielleicht verrückt«, sagte er. »Aber ich hab’ mir ein bißchen Sorgen gemacht, weißt du? Daß ihr vielleicht etwas zugestoßen sein könnte.«
    Ich sagte nichts. Der gleiche Gedanke war mir auch schon gekommen, und nicht nur einmal.
    »Ich meine – nicht, daß ich dachte, Henry würde sie umbringen oder so was, aber weißt du ... Es war seltsam. Verschwindet einfach so, ohne ein Wort zu jemandem zu sagen. Ich ...« Er schüttelte den Kopf. »Ich sag’s ungern, aber manchmal frage ich mich, ob Henry ... Vor allem, wenn – na, du weißt, was ich meine, oder?«
    Ich antwortete nicht. Ich wußte durchaus sehr wohl, was er meinte. Aber es war zu grauenhaft, als daß es einer von uns hätte aussprechen können.
     
    Charles hatte ein Zweibettzimmer. Sein Bett stand näher bei der Tür und war durch einen Vorhang von seinem Zimmergenossen getrennt, dem Postmeister von Hampden County, wie wir später erfuhren, der wegen einer Prostata-Operation hier war. Auf seiner Seite standen zahlreiche Blumensträuße, und kitschige Genesungspostkarten hingen mit Klebestreifen an der Wand; er saß aufrecht im Bett und unterhielt sich mit lärmenden Verwandten: Essensgerüche, Gelächter, alles ganz fröhlich und gemütlich. Hinter Francis und mir kam weiterer Besuch für ihn; die Leute blieben für einen Augenblick stehen und spähten neugierig über den Vorhang hinweg zu Charles, der schweigend und allein flach auf dem Rücken lag, eine Infusionskanüle im Arm. Sein Gesicht war aufgedunsen, und seine Haut, rauh und grob, war an einigen Stellen rissig von irgendeinem Ausschlag. Sein Haar war so schmutzig, daß es braun aussah. Er schaute sich gewalttätige Zeichentrickfilme im Fernsehen an: Kleine Tiere, die aussahen wie Wiesel, zertrümmerten Autos und prügelten einander auf die Schädel.
    Er setzte sich mühsam auf, als wir in sein Abteil traten. Francis zog den Vorhang zu – praktisch vor den Nasen der neugierigen Besucher des Postmeisters, zweier Damen mittleren Alters, die danach lechzten, einen gründlichen Blick auf Charles zu werfen; die eine hatte den Kopf hereingeschoben und krähte »Guten Morgen!« durch die Vorhanglücke, weil sie hoffte, vielleicht ein Gespräch in Gang zu

Weitere Kostenlose Bücher