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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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morgens auf; ich hatte fast vierundzwanzig Stunden geschlafen.
    In diesem Frühjahr waren die Nächte ungewöhnlich kalt, und diese war kälter als die meisten; in den Wohnhäusern war die Heizung an – eine Dampfheizung, die mit Volldampf arbeitete, so daß es selbst bei offenem Fenster unglaublich stickig war. Mein Bettzeug war feucht von Schweiß. Ich stand auf, steckte den Kopf aus dem Fenster und holte ein paarmal tief Luft. Die kalte Luft war so erfrischend, daß ich beschloß, mich anzuziehen und einen Spaziergang zu machen.
    Der Vollmond war sehr hell. Alles war still bis auf das Zirpen der Grillen und das volle, schaumige Rauschen des Windes in den Bäumen. Unten am Vorschulcenter, wo Marion arbeitete,
schwangen die Schaukeln sanft knarrend hin und her, und die spiralige Rutschbahn blinkte silbern im Mondlicht.
    Das auffälligste Objekt auf dem Spielplatz war ohne Zweifel die Riesenschnecke. Ein paar Kunststudenten hatten sie nach dem Vorbild der Riesenschnecke in dem Film Dr. Dolittle gebaut. Sie war rosarot und aus Fiberglas, fast zweieinhalb Meter hoch und hohl, so daß die Kinder darin spielen konnten. Schweigend hockte sie im Mondschein wie ein geduldiges prähistorisches Geschöpf, das von den Bergen heruntergekrochen war: Dumm und einsam ließ es hier die Zeit vergehen, unbeeindruckt von den Gegenständen kindlicher Zerstreuung, die es umgaben.
    Den Zugang ins Innere der Schnecke erlangte man durch einen kindergroßen, gut halbmeterhohen Tunnel am Schwanzende. Mit äußerstem Schrecken sah ich aus diesem Tunnel ein Paar Männerfüße herausgucken, die in seltsam vertrauten braun-weißen Schuhen steckten.
    Ich ließ mich auf Hände und Knie nieder und schob den Kopf in den Tunnel; der rauhe, machtvolle Whiskeygestank war überwältigend. Leises Schnarchen hallte in der engen, schnapsdunstigen Dunkelheit. Das Schneckenhaus wirkte offenbar wie ein Cognacschwenker, in dem sich die Dünste sammelten und konzentrierten, bis sie so stechend waren, daß einem vom bloßen Einatmen übel wurde.
    Ich packte ein knochiges Knie und schüttelte es. »Charles!« Meine Stimme hallte dröhend durch das dunkle Schneckenhaus. »Charles! «
    Er fing an, wild um sich zu schlagen, als sei er unversehens in drei Meter tiefem Wasser aufgewacht. Endlich, und nach der wiederholt ausgesprochenen Versicherung, daß ich tatsächlich der sei, der ich zu sein behauptete, ließ er sich schweratmend auf den Rücken fallen.
    »Richard«, sagte er mit belegter Stimme. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, du bist eine Kreatur aus dem Weltraum.«
    Anfangs war es stockfinster in dem Schneckenhaus gewesen, aber als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, nahm ich ein mattes, rosiges Licht wahr, Mondlicht, das gerade so hell durch die durchscheinenden Wände drang, daß man ein bißchen sehen konnte. »Was machst du hier?« fragte ich.
    Er nieste. »Ich war deprimiert«, sagte er. »Ich dachte, wenn ich hier schlafe, geht’s mir besser.«
    »Und – geht’s besser?«
    »Nein.« Er nieste noch einmal, fünf- oder sechsmal hintereinander. Dann ließ er sich wieder zu Boden sinken.
    Ich dachte an die Vorschulkinder, wie sie sich am nächsten Morgen um Charles drängen würden wie die Liliputaner um den schlafenden Gulliver. Die Leiterin des Centers – eine Psychiaterin, deren Büro am selben Flur lag wie das von Dr. Roland – machte einen freundlichen, großmütterlichen Eindruck auf mich, aber wer wußte schon, wie sie reagieren würde, wenn sie einen Betrunkenen schlafend auf dem Spielplatz fände. »Wach auf, Charles«, sagte ich.
    »Laß mich in Ruhe.«
    »Du kannst hier nicht schlafen.«
    »Ich kann machen, was ich will«, sagte er hochfahrend.
    »Wieso kommst du nicht mit mir nach Hause? Wir trinken noch einen.«
    »Mir gefällt’s hier.«
    »Ach, komm doch.«
    »Na gut – aber nur einen.«
    Er stieß sich heftig den Kopf, als er herauskrabbelte. Die Kleinen würden entzückt sein über den Jonny-Walker-Geruch, wenn sie in ein paar Stunden herkämen.
    Auf dem Weg zum Monmouth House mußte er sich auf mich stützen.
    »Aber nur einen«, erinnerte er mich.
     
    Ich war selber nicht gerade in bester Form und hatte große Mühe, ihn die Treppe hinaufzuwuchten. Endlich kam ich in mein Zimmer und deponierte ihn auf dem Bett. Er leistete kaum Widerstand; murmelnd lag er da, während ich in die Küche hinunterging.
    Der angebotene Drink war eine List gewesen. Hastig durchsuchte ich den Kühlschrank, aber ich fand nur eine Flasche mit

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