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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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war wie diese jungen Mediziner in Hawaii-Hemden und Tennisschuhen, die man in den Fernsehserien sieht. »Hallo«, sagte sie, »ich habe mir gerade Ihren Freund angesehen. Ich glaube, wir werden ihn zwei Tage bei uns behalten müssen.« Ich ließ meine Illustrierte sinken. Damit hatte ich nicht gerechnet. »Was hat er denn?« fragte ich.
    »Es sieht aus wie eine Bronchitis, aber er ist völlig dehydriert. Ich möchte ihm eine Infusion geben. Außerdem müssen wir das Fieber herunterbringen. Er wird wieder auf die Beine kommen, aber er braucht Ruhe und ein paar starke Antibiotika, und damit sie wirken können, so schnell es geht, sollten wir sie ebenfalls intravenös verabreichen, zumindest während der ersten achtundvierzig Stunden. Gehen Sie beide oben aufs College?«
    »Ja.«
    »Steht er unter großem Streß? Muß er eine Examensarbeit schreiben oder so was?«
    »Er arbeitet ziemlich angestrengt«, sagte ich vorsichtig. »Warum?«
    »Oh, nur so. Wie er aussieht, hat er nicht richtig gegessen. Hat Blutergüsse an Armen und Beinen, was nach Vitamin-C-Mangel aussieht, und vielleicht fehlen ihm auch ein paar B-Vitamine.«
    Sie wollte mich nicht zu ihm lassen; sie sagte, sie wolle noch ein paar Blutuntersuchungen erledigen lassen, bevor die Laborantinnen Feierabend machten, und so fuhr ich zum Apartment der Zwillinge, um ein paar von seinen Sachen zu holen. In der Wohnung herrschte ominöse Ordnung. Ich packte Schlafanzug, Zahnbürste, Rasierzeug und zwei Taschenbücher ein (von P. G. Wodehouse; ich dachte, das würde ihn aufmuntern), und dann gab ich den Koffer in der Aufnahme ab.
     
    Früh am nächsten Morgen, bevor ich zum Griechischkurs ging, klopfte Judy bei mir an und sagte, unten sei ein Anruf für mich. Ich dachte, es sei Francis oder Henry – die ich beide in der Nacht mehrmals zu erreichen versucht hatte –, vielleicht sogar Camilla, aber es war Charles.
    »Hallo«, sagte ich. »Wie geht’s dir?«
    »Oh, sehr gut.« Seine Stimme klang eigenartig und gezwungen fröhlich. »Es ist ganz behaglich hier. Danke, daß du den Koffer vorbeigebracht hast.«
    »Kein Problem. Hast du eins von diesen Betten, die man rauf-und runterkurbeln kann?«
    »Ja, hab’ ich. Hör mal. Ich möchte dich was fragen. Tust du mir einen Gefallen?«
    »Natürlich.«
    »Ich möchte, daß du mir ein paar Sachen bringst.« Er bat um ein Buch, um Briefpapier und um einen Bademantel, der an der Innenseite der Schranktür hänge. »Außerdem«, fügte er hastig hinzu, »ist
da noch eine Flasche Scotch. Du findest sie in meiner Nachttischschublade. Meinst du, die kannst du heute vormittag eben abholen?«
    »Ich muß zum Griechischkurs.«
    »Na, dann eben nach dem Griechischkurs. Wann, glaubst du, kannst du hier sein?«
    Ich sagte, ich müsse sehen, wo ich mir ein Auto leihen könne.
    »Zerbrech dir deshalb nicht den Kopf. Nimm ein Taxi. Ich gebe dir das Geld zurück. Ich weiß das wirklich zu schätzen, verstehst du. Wann kann ich mit dir rechnen? Halb elf? Elf?«
    »Wahrscheinlich eher halb zwölf.«
    »Prima. Hör zu, ich kann jetzt nicht sprechen; ich bin im Aufenthaltsraum, und ich muß ins Bett zurück, bevor sie mich da vermissen. Du kommst doch, oder?«
    »Ich komme.«
    »Bademantel und Briefpapier.«
    »Ja.«
    »Und den Scotch.«
    »Natürlich.«
     
    Camilla erschien an diesem Morgen nicht zum Kurs, aber Francis und Henry waren anwesend. Julian war schon da, als ich eintraf, und ich berichtete, daß Charles im Krankenhaus sei.
    Zwar konnte Julian unter allen möglichen schwierigen Umständen wunderbar mitfühlend sein, aber manchmal hatte ich das Gefühl, daß es gar kein wirkliches Mitfühlen war, sondern daß es ihm bloß um die Eleganz der Geste selbst ging. Es ermutigte mich deshalb zu sehen, daß er ernstlich besorgt zu sein schien. »Der arme Charles«, sagte er. »Es ist doch nichts Ernstes, oder?«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Darf er Besuch bekommen? Ich werde ihn heute nachmittag auf alle Fälle anrufen. Wüßten Sie irgend etwas, worüber er sich vielleicht freuen würde? Das Essen ist ja so grauenhaft im Krankenhaus. Ich weiß noch, als vor Jahren in New York eine liebe Freundin von mir im Columbia Presbyterian lag – im verwünschten Harkness-Pavillon, um Gottes willen –, da pflegte der Küchenchef aus dem ›Le Chasseur‹ ihr jeden Tag ein Essen zu schicken ...«
    Henry saß mir gegenüber am Tisch und machte eine undurchdringliche Miene. Ich versuchte Francis’ Blick zu erhaschen, aber er sah mich nur einmal

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