Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
ich.
»Ich weiß nicht.«
»Er wird bald aus dem Krankenhaus kommen. Du wirst ihn sehen müssen. Was machst du dann?«
»Warum bist du so wütend auf mich, Richard?«
Ich blickte auf meine Hand. Sie zitterte. Ich hatte es gar nicht gemerkt. Ich zitterte vor Wut am ganzen Leib.
»Bitte geh«, sagte ich. »Ich wünschte, du würdest gehen.«
»Was ist denn?«
»Geh einfach. Bitte.«
Sie stand auf und kam einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. »okay«, sagte sie. »Okay.« Und sie wandte sich ab und ging.
Es regnete den ganzen Tag und den Rest der Nacht. Ich nahm ein paar Beruhigungstabletten und ging ins Kino: ein japanischer Film; ich konnte ihm irgendwie nicht folgen. Die Personen lungerten in leeren Räumen herum, niemand sagte etwas, alles war minutenlang still, und man hörte nur das Brummen des Projektors und das Rauschen des Regens auf dem Dach. Das Kino war leer bis auf den Schatten eines Mannes, der hinten saß. Stäubchen schwebten im Strahl der Projektion. Es regnete, als ich herauskam, keine Sterne, der Himmel schwarz wie die Decke des Kinos. Die Lichter des Eingangs zerschmolzen auf dem nassen Pflaster zu langem, weißem Glanz. Ich ging durch die Glastür zurück, um drinnen in der teppichgedämpften, nach Popcorn riechenden Lobby auf mein Taxi zu warten. Ich rief Charles vom Münztelefon aus an, aber die Zentrale im Krankenhaus wollte mich nicht mehr verbinden: Die Besuchszeit sei vorbei, sagte die Telefonistin, und alles schlafe. Ich diskutierte noch mit ihr, als das Taxi am Bordstein hielt; lange, schräge Regenschleier tanzten im Licht der Scheinwerfer, und die Reifen wirbelten kleine Wasserfächer auf.
Ich träumte in dieser Nacht wieder von der Treppe. Es war ein Traum, den ich in jenem Winter oft träumte, aber seitdem nur noch
selten. Ich stand wieder auf der durchgerosteten und geländerlosen Eisentreppe bei Leo, aber jetzt erstreckte sie sich hinunter in dunkle Unendlichkeit, und die Stufen waren alle unterschiedlich groß: manche hoch, manche kurz, manche so schmal wie mein Schuh. Zu beiden Seiten gähnte bodenlose Tiefe. Aus irgendeinem Grund mußte ich mich beeilen, obwohl ich furchtbare Angst hatte zu fallen. Hinunter und immer weiter hinunter. Die Treppe wurde immer halsbrecherischer, bis es schließlich gar keine Treppe mehr war. Weiter unten – und aus irgendeinem Grund war das immer das Schrecklichste – ging ein Mann hinunter, weit vor mir, sehr schnell ...
Ich wachte gegen vier Uhr auf und konnte nicht mehr schlafen. Zu viele von Mrs. Corcorans Tranquilizern – in meinem Organismus begann sich der Gegeneffekt bemerkbar zu machen. Ich stand auf und setzte mich ans Fenster. Mein Herzschlag vibrierte in meinen Fingerspitzen. Draußen vor den schwarzen Scheiben, hinter meinem gespenstischen Spiegelbild im Glas ( warum so blaß und zart, Geliebter? ), hörte ich den Wind in den Bäumen, und ich spürte, wie die Berge sich im Dunkeln ringsum herandrängten.
Ich wünschte, ich könnte das Denken abstellen. Aber jetzt fiel mir plötzlich alles mögliche ein. Zum Beispiel: Warum hatte Henry mich eingeweiht, vor nur zwei Monaten (Jahre schien es her zu sein, ein ganzes Leben)? Denn jetzt war es offensichtlich, daß sein Entschluß, mir alles zu erzählen, ein berechneter Schachzug gewesen war. Er hatte an meine Eitelkeit appelliert, hatte mich glauben lassen, ich sei selbst darauf gekommen ( Gut für dich, hatte er gesagt und sich im Sessel zurückgelegt, du bist genauso clever, wie ich dachte), und ich hatte mich im Glanz seines Lobes beglückwünscht, während er mich in Wirklichkeit – jetzt sah ich es, aber damals war ich zu eitel gewesen, um es zu sehen – geradewegs hingeführt hatte, lockend und schmeichelnd. Vielleicht – der Gedanke kroch über mich hinweg wie kalter Schweiß –, vielleicht war sogar meine erste zufällige Entdeckung absichtlich eingefädelt worden. Das Lexikon zum Beispiel, das verlegt worden war: Hatte Henry es mitgenommen, weil er wußte, daß ich es holen kommen würde? Und die chaotische Wohnung, in die ich zweifellos kommen würde, die Flugnummern und das alles, absichtlich neben dem Telefon deponiert, wie es jetzt schien, denn beides waren Versehen, die Henrys nicht würdig waren. Vielleicht hatte er die Feigheit in mir - ganz zutreffend – geahnt, diesen scheußlichen Herdentrieb, der mich befähigen würde, mich ihnen ohne Frage anzuschließen.
Und es ging nicht nur darum, daß ich den Mund gehalten hatte, dachte ich
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