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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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bringen.
    »Dorothy! Louise!« rief jemand von der anderen Seite. »Hier drüben!«
    Schnelle Schritte klapperten über das Linoleum, und man hörte hühnerartiges Gegacker und spitze Begrüßungsschreie.
    »Zum Teufel mit denen«, sagte Charles. Er war sehr heiser; seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Der hat dauernd Leute da. Sie kommen und gehen und versuchen, mich anzugaffen.«
    Um ihn abzulenken, überreichte ich ihm die Orchidee.
    »Wirklich? Die hast du für mich gekauft, Richard?« Er wirkte gerührt. Ich wollte ihm erklären, daß sie von uns allen sei – ohne mit der Tür ins Haus zu fallen und Henry ausdrücklich zu erwähnen -, aber Francis warf mir einen warnenden Blick zu, und ich hielt den Mund.
    Wir packten unseren Geschenkesack aus. Ich hatte halb damit gerechnet, daß er sich auf die Cutty-Sark-Flasche stürzen und sie vor unseren Augen aufreißen würde, aber er bedankte sich nur und schob die Flasche in das Fach unter dem hochgeklappten Bett-Tablett aus grauem Plastik.
    »Hast du mit meiner Schwester gesprochen?« fragte er Francis. Es klang sehr kalt – etwa so, als hätte er gefragt: Hast du mit meinem Anwalt gesprochen?
    »Ja«, sagte Francis.
    »Ist sie okay?«
    »Sieht so aus.«
    »Was hat sie zu sagen?«
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Du hast ihr hoffentlich ausgerichtet, daß sie zum Teufel gehen soll?«
    Francis gab keine Antwort. Charles nahm eines der Bücher, die ich ihm mitgebracht hatte, und fing an, flüchtig darin zu blättern. »Danke, daß ihr gekommen seid«, sagte er. »Ich bin jetzt irgendwie müde.«
     
    »Er sieht furchtbar aus«, sagte Francis im Auto.
    »Es muß doch eine Möglichkeit geben, alles wieder einzurenken«, sagte ich. »Wir können Henry doch bestimmt überreden, ihn anzurufen und sich zu entschuldigen.«
    »Und was, glaubst du, wird das nützen? Solange Camilla im Albermarle wohnt?«
    »Na, sie weiß noch nicht, daß er im Krankenhaus ist, oder? Das ist so was wie ein Notfall.«
    »Ich weiß nicht.«
    Die Scheibenwischer fuhren klickend hin und her. Ein Cop im Regenmantel regelte den Verkehr auf der Kreuzung. Es war der Cop mit dem roten Schnurrbart. Als er Henrys Auto erkannte, lächelte er uns zu und winkte uns durch. Wir lächelten und winkten zurück – happy day , zwei Jungs auf Spazierfahrt – und fuhren ein oder zwei Blocks weit in grimmigem, abergläubischem Schweigen.
    »Es muß doch etwas geben, was wir tun können«, sagte ich schließlich.
    »Ich glaube, wir sollten uns da lieber raushalten.«
    »Du kannst mir nicht erzählen, daß sie nicht binnen fünf Minuten im Krankenhaus erscheinen würde, wenn sie wüßte, wie krank er ist.«
    »Es ist mein Ernst. Ich glaube, wir sollten uns da lieber raushalten.«
    »Wieso?«
    Aber er zündete sich nur eine Zigarette an und sagte nichts mehr, so sehr ich ihn auch löcherte.
     
    Als ich in mein Zimmer kam, saß Camilla an meinem Schreibtisch und las in einem Buch. »Hallo«, sagte sie und blickte auf. »Die Tür war offen. Du hast hoffentlich nichts dagegen.«
    Ihr Anblick wirkte wie ein Stromschlag. Ganz unverhofft stieg Ärger in mir auf. Regen wehte durchs Fenster herein, und ich ging hinüber und machte es zu.
    »Was machst du hier?« fragte ich.
    »Ich wollte mit dir reden.«
    »Worüber?«
    »Über meinen Bruder.«
    »Wieso gehst du nicht selbst zu ihm?«
    Sie legte das Buch hin – ah, so schön, dachte ich hilflos; ich liebte sie, liebte ihren großen Anblick. Sie trug einen Kaschmirpullover in sanftem Graugrün, und ihre grauen Augen leuchteten grünlich. »Du glaubst, du mußt Partei nehmen«, sagte sie. »Aber das mußt du nicht.«
    »Ich ergreife für niemanden Partei. Ich finde bloß, was immer du vorhast, du hast dir einen schlechten Zeitpunkt dafür ausgesucht.«
    »Und was wäre ein guter Zeitpunkt?« fragte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen. Schau.«
    Sie hielt eine helle Haarsträhne an ihrer Schläfe hoch. Darunter war ein verkrusteter Fleck von der Größe eines Vierteldollars, wo jemand offenbar ein Büschel Haare mit den Wurzeln ausgerissen hatte. Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen.
    »Und das hier.« Sie schob den Ärmel ihres Pullovers hoch. Das Handgelenk war geschwollen und ein bißchen verfärbt, aber das Entsetzliche war ein kleiner, bösartiger Brandfleck an der Unterseite des Armes: ein Zigarettenbrandfleck, tief und häßlich ins elfenbeinfarbene Fleisch geschmort.
    Es dauerte einen Augenblick, bevor ich meine Sprache wiederfand. »Mein

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