Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
und starrte mit flauem Gefühl mein verschwommenes Spiegelbild in der Fensterscheibe an. Denn sie hätten es ohne mich nicht tun können. Bunny war zu mir gekommen, und ich hatte ihn Henry in die Hände geliefert. Und ich hatte nicht zweimal darüber nachgedacht.
»Du warst die Alarmglocke, Richard«, hatte Henry gesagt. »Nachdem er es dir nun erzählt hat, habe ich das Gefühl, daß wir eine lawinenartige Abfolge von weiteren Dummheiten zu gewärtigen haben.«
Eine lawinenartige Abfolge von Dummheiten. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich an den ironischen, fast humorvollen Unterton dachte, den er in die letzten Worte gelegt hatte – o Gott, dachte ich, mein Gott, wie konnte ich nur auf ihn hören? Und recht hatte er gehabt, zumindest was die Rasanz der Ereignisse anging. Weniger als zwölf Stunden später war Bunny tot gewesen. Zwar hatte ich ihn nicht mit eigener Hand gestoßen – was mir einmal als wesentlicher Unterschied erschienen war –, aber das war jetzt nicht mehr wichtig.
Und immer noch bemühte ich mich, den schwärzesten Gedanken von allen niederzukämpfen; seine bloße Andeutung schon ließ die Rattenfüße der Panik an meiner Wirbelsäule hinauftrippeln. Hatte Henry die Absicht gehabt, mich zum Sündenbock zu machen, wenn sein Plan scheitern sollte? Wenn ja, dann wußte ich nicht genau, wie er das hätte zuwege bringen wollen; aber wenn er Lust dazu gehabt hätte, wäre er auch dazu imstande gewesen; daran zweifelte ich keinen Augenblick. So vieles von dem, was ich wußte, wußte ich aus zweiter Hand, so vieles hatte nur er mir erzählt, und wenn man sich’s recht überlegte, wußte ich eine ganze Menge überhaupt nicht. Und auch wenn anscheinend keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, gab es doch keine Garantie dafür, daß die Dinge nicht in einem Jahr, in zwanzig Jahren, in fünfzig Jahren wieder ins Rollen kommen würden. Ich wußte aus dem Fernsehen, daß Mord nicht verjährte. Neues Beweismaterial entdeckt. Ermittlungen wiederaufgenommen. So etwas las man immer wieder.
Es war immer noch dunkel. Vögel zirpten in der Dachrinne. Ich zog die Schreibtischschublade auf und zählte die restlichen Tranquilizer, bonbonfarbige Dinger, die sich hübsch auf dem Schreibmaschinenpapier ausmachten, auf dem sie lagen. Es waren immer noch ziemlich viele – genug für meine Zwecke. (Ob Mrs. Corcoran
wohler sein würde, wenn sie von dieser Wendung wüßte: daß die Pillen, die man ihr gestohlen hatte, den Mörder ihres Sohnes getötet hatten?) Es war so leicht, mir vorzustellen, wie sie durch meine Kehle glitten, aber als ich jetzt ins grelle Licht der Schreibtischlampe blinzelte, überkam mich eine Woge von Ekel, so stark, daß mich fast Übelkeit überkam. So grauenvoll sie war, die jetzige Dunkelheit, ich hatte doch Angst, sie zu verlassen und in jene andere, ewige Dunkelheit hinüberzuwechseln – schleimig aufgedunsen in schlammiger Grube. Den Schatten davon hatte ich auf Bunnys Gesicht gesehen, stupider Schrecken, die ganze Welt aus den Angeln kippend, als sein Leben im Krähendonner explodierte und der Himmel sich über seinem Bauch dehnte wie ein weißer Ozean. Dann nichts. Modrige Stümpfe, Mistkäfer krabbelnd in totem Laub. Dreck und Dunkelheit.
Ich legte mich aufs Bett. Ich fühlte, wie mein Herz in der Brust hinkte, ein jämmerlicher Muskel, krank und blutig, der gegen meine Rippen pulsierte. Regen strömte an den Fensterscheiben herunter. Der Rasen draußen war naß und sumpfig. Als es hell wurde, sah ich im dünnen, kalten Licht des Morgengrauens, daß die Steinplatten vor dem Haus von Regenwürmern übersät waren: zart und eklig, Hunderte, die sich blind und hilflos wanden auf dem regennassen Schiefer.
Im Unterricht erwähnte Julian am Dienstag, daß er mit Charles telefoniert habe. »Sie haben recht«, sagte er leise. »Er hört sich nicht gut an. Höchst benommen und verwirrt, finden Sie nicht? Vermutlich bekommt er Beruhigungsmittel?« Lächelnd blätterte er in seinen Papieren. »Armer Charles. Ich habe gefragt, wo Camilla sei – ich wollte, daß sie an den Apparat kam, denn auf das, was er mir zu sagen versuchte, konnte ich mir keinen Reim machen - und er sagte« – (und an dieser Stelle veränderte seine Stimme sich leicht, um Charles zu imitieren, wie ein Fremder hätte annehmen können, aber es war tatsächlich immer noch Julians Stimme, kultiviert und schnurrend, nur leicht im Ton erhöht, als könne er es nicht einmal in der Mimikry ertragen, ihren eigenen
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