Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
den kreidefahlen Holzverschalungen war wild und bedrohlich.
Ich bog in die Water Street ein, die nordwärts an Henrys Haus vorbeiführte, und als ich näher kam, sah ich einen dunklen Schatten hinten in seinem Garten. Nein , dachte ich.
Aber er war es. Er kniete neben einem Wassereimer und einem Lappen, und als ich herankam, sah ich, daß er nicht die Steinplatten des Weges putzte, wie ich zunächst gedacht hatte, sondern einen Rosenstrauch wusch. Er beugte sich darüber und polierte die Blätter mit peinlicher Sorgfalt – wie ein verrückter Gärtner aus Alice im Wunderland.
Ich glaubte, daß er jeden Moment damit aufhören müsse, aber er tat es nicht, und schließlich machte ich das Gartentor auf und trat ein. »Henry«, sagte ich, »was machst du da?«
Er blickte auf, ruhig und gar nicht überrascht. »Spinnmilben«, sagte er. »Wir hatten einen feuchten Frühling. Ich habe zweimal
gesprüht, aber um die Eier abzukriegen, wäscht man sie am besten mit der Hand.« Er warf den Lappen in den Eimer. Ich sah – nicht zum erstenmal in letzter Zeit –, wie gut er aussah, wie seine steife, traurige Haltung entspannter und natürlicher geworden war. Ich hatte nie gefunden, daß Henry ein gutaussehender Typ sei – im Gegenteil, ich hatte eigentlich immer den Verdacht gehabt, daß nur die Förmlichkeit seines Auftretens ihn, was das Aussehen anging, vor der Mittelmäßigkeit bewahrte –, aber jetzt, nicht mehr so starr und verschlossen in seinen Bewegungen, hatte er eine sichere, tigerhafte Anmut, deren Behendigkeit und Leichtigkeit mich überraschte. Eine Haarlocke wehte ihm über die Stirn. »Das ist eine ›Reine des Violettes‹«, sagte er und deutete auf den Rosenstrauch. »Eine hübsche alte Rose. Eingeführt im Jahr 1860. Und das da ist eine ›Madame Isaac Pereire‹. Die Blüten duften nach Veilchen.«
»Ist Camilla hier?« fragte ich.
Sein Gesicht zeigte keinerlei Emotion oder auch nur die Bemühung, eine solche zu verbergen. »Nein«, sagte er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Sie schlief, als ich ging. Ich wollte sie nicht wecken.«
Es war ein Schock, ihn derart intim über sie sprechen zu hören. Pluto und Persephone. Ich sah seinen Rücken an, aufrecht wie der eines Pfarrers, versuchte, mir die beiden zusammen vorzustellen.
Henry fragte unverhofft: »Wie geht es Charles?«
»Ganz gut«, sagte ich nach einer verlegenen Pause.
»Er kommt bald nach Hause, nehme ich an.«
Eine schmutzige Plane flatterte geräuschvoll oben auf dem Dach. Henry arbeitete weiter. Mit seiner dunklen Hose, dem weißen Hemd und den auf dem Rücken gekreuzten Hosenträgern sah er fast aus wie ein Amisch.
»Henry«, sagte ich.
Er blickte nicht auf.
»Henry, es geht mich nichts an, aber ich hoffe bei Gott, daß du weißt, was du tust.« Ich schwieg; ich erwartete irgendeine Antwort, aber es kam keine. »Du hast Charles nicht gesehen, aber ich; ich glaube nicht, daß dir klar ist, in welcher Verfassung er ist. Frag Francis, wenn du mir nicht glaubst. Sogar Julian hat es gemerkt. Ich meine, ich habe versucht, es dir zu sagen, aber ich glaube einfach nicht, daß du es begriffen hast. Er ist von Sinnen, und Camilla hat keine Ahnung davon, und ich weiß nicht, was wir alle machen werden, wenn er nach Hause kommt. Ich bin nicht mal sicher, daß er allein sein kann. Ich meine ...«
»Entschuldige«, unterbrach Henry mich, »aber hättest du etwas dagegen, mir die Schere da zu reichen?«
Es war lange still. Schließlich reckte er sich hinüber und holte die Schere selbst. »Also gut«, sagte er freundlich. »Macht ja nichts.« Äußerst gewissenhaft teilte er die Stiele und schnitt in der Mitte einen ab; dabei hielt er die Schere vorsichtig schräg, damit er nicht einen benachbarten Stiel verletzte.
»Was, zum Teufel, ist los mit dir?« Ich hatte große Mühe, leise zu sprechen. In der oberen Wohnung, die nach hinten hinaus gelegen war, standen die Fenster offen; Leute plauderten dort, hörten Radio, gingen umher. »Warum mußt du es allen so schwermachen?« Er drehte sich nicht um. Da riß ich ihm die Schere aus der Hand und warf sie klappernd auf den Pflasterweg. »Antworte mir«, sagte ich.
Wir sahen einander lange an. Seine Augen hinter der Brille blickten fest und waren sehr blau.
Schließlich sagte er leise: »Erzähl’s mir.«
Die Intensität seines Blicks machte mir angst. »Was denn?«
»Du hast keine besonders starken Empfindungen für andere Leute, nicht wahr?«
Ich war verdattert. »Wovon
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