Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
melodiösen Klang substantiell zu ändern) –, »er sagte in höchst melancholischem Ton: ›Sie versteckt sich vor mir.‹ Er träumte natürlich. Ich fand es reizend. Um ihm entgegenzukommen, sagte ich deshalb: ›Nun, dann müssen Sie die Augen schließen und bis zehn zählen, und dann wird sie zurückkommen.‹«
Er lachte. »Aber da wurde er zornig auf mich. Es war wirklich
ganz charmant. ›Nein‹, sagte er. ›Nein, das wird sie nicht tun.‹ – ›Aber Sie träumen‹, wandte ich ein. ›Nein‹, sagte er. ›Nein, ich träume nicht. Es ist kein Traum. Es ist Wirklichkeit.‹«
Die Ärzte konnten sich nicht recht erklären, was Charles eigentlich fehlte. Sie versuchten es im Laufe der Woche mit zwei verschiedenen Antibiotika, aber die Infektion – was immer es war – reagierte nicht. Als Francis ihn Mittwoch und Donnerstag besuchen ging, sagte man ihm, daß es ihm besser gehe, und wenn sich alles gut entwickle, könne er am Wochenende nach Hause.
Am Freitag gegen zehn ging ich nach einer weiteren schlaflosen Nacht zu Francis hinüber. Es war ein warmer Morgen; die Bäume schimmerten in der Hitze. Ich fühlte mich ausgemergelt und erschöpft. Die warme Luft vibrierte vom Summen der Wespen und vom Dröhnen der Rasenmäher. Schwalben schossen zwitschernd in flatternden Paaren durch den Himmel.
Ich hatte Kopfschmerzen und wünschte mir eine Sonnenbrille herbei. Mit Francis war ich erst für halb zwölf verabredet, aber mein Zimmer war das reinste Schlachtfeld; ich hatte seit Wochen keine Wäsche mehr gewaschen, war apathisch auf meinem zerwühlten Bett gelegen, schwitzend und bemüht, die Bässe der Anlage meines Nachbarn zu ignorieren, die stampfend durch die Wand dröhnten. Judd und Frank bauten ein riesiges, wackliges, modernistisches Objekt auf den Rasen vor dem Commons, und die Hammerschläge und Preßluftbohrer hatten schon frühmorgens eingesetzt. Ich wußte nicht, was es werden sollte – ich hatte unterschiedliche Auskünfte bekommen: eine Bühnenkulisse, eine Skulptur, ein Denkmal für die Grateful Dead im Stil von Stonehenge -, aber als ich das erstemal aus dem Fenster geschaut und, benommen vom Fiorinal, die senkrechten Pfosten schroff auf dem Rasen hatte aufragen sehen, da hatte mich ein schwarzes, irrationales Grauen durchflutet: Ein Galgen , hatte ich gedacht, sie zimmern einen Galgen, es wird einer gehängt auf dem Rasen vor dem Commons ... Die Halluzination war gleich wieder vorbei gewesen, aber auf eine seltsame Art hatte sie Bestand gehabt und in verschiedenem Licht immer wieder Gestalt angenommen wie eins dieser Bilder auf den Covers der Horrortaschenbücher im Supermarkt: Drehte man sie hierhin, sah man ein lächelndes blondes Kind, und dorthin gedreht, erschien ein flammender Totenschädel. Manchmal sah das Gerüst profan, albern, völlig harmlos aus; aber, sagen wir frühmorgens oder in der Abenddämmerung, versank die
Welt ringsum, und ein Galgen ragte empor, mittelalterlich und schwarz, und die Vögel kreisten tief am Himmel darüber. Nachts warf er seinen langen Schatten durch den unruhigen Schlaf, den ich fand.
Im Grunde bestand das Problem darin, daß ich zu viele Tabletten genommen hatte – Uppers jetzt, die ich periodisch mit Downers mixte, weil die letzteren, wiewohl sie mir keinen Schlaf mehr brachten, mich doch tagsüber verkatert sein ließen, so daß ich in stetigem Zwielicht umherlief. Schlaf ohne Medikamente war eine Unmöglichkeit, ein Märchen, ein ferner Kindheitstraum. Aber die Downers gingen mir allmählich aus; und obwohl ich wußte, daß ich wahrscheinlich von Cloke oder Bram oder sonst wem neue würde kriegen können, beschloß ich, ein, zwei Tage damit auszusetzen – abstrakt gesehen eine gute Idee, aber es war eine Qual, aus meinem gespenstischen U-Boot-Dasein aufzutauchen in diese schroffe Stampede aus Lärm und Licht. Die Welt klirrte mit scharfer, dissonanter Klarheit: Grün überall, Schweiß und Säfte, Unkraut in den verstreuten Rissen des alten Marmorgehsteigs, in den geäderten weißen Platten, wellig und aufgewölbt nach einem Jahrhundert harter Januarfröste. Ein Millionär hatte sie anlegen lassen, diese marmornen Gehwege in Hampden, ein Mann, der den Sommer in Hampden verbracht und der sich in den zwanziger Jahren an der Park Avenue aus einem Fenster gestürzt hatte. Hinter den Bergen war der Himmel bedeckt, so dunkel wie Schiefer. Die Luft war drückend; Regen kam, bald. Geranien loderten vor weißen Hausfassaden, und ihr Rot vor
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