Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
meine Schüchternheit für Mißmutigkeit gehalten, für Snobismus oder eine Art Übellaunigkeit. »Hör auf, so hochmütig zu gucken!«« brüllte mein Vater manchmal, wenn ich beim Essen war, beim Fernsehen, oder mich sonstwie um meinen eigenen Kram kümmerte. Aber diese Beschaffenheit meiner Gesichtszüge (ich glaube, mehr ist es eigentlich nicht – nur eine gewisse Art, die Mundwinkel herunterzuziehen, die wenig mit meiner tatsächlichen Stimmung zu tun hat) hat ebensooft auch zu meinem Vorteil gewirkt. Monate, nachdem ich die fünf kennengelernt hatte, erfuhr ich zu meiner Überraschung, daß sie mich anfangs beinahe ebenso ratlos betrachtet hatten wie ich sie. Ich kam nie auf den Gedanken, daß mein Verhalten ihnen anders als täppisch und provinziell hätte erscheinen können, schon gar nicht, daß sie es so rätselhaft finden konnten, wie sie es fanden; weshalb, fragten sie mich schließlich, hatte ich niemandem irgend etwas über mich erzählt? Weshalb hatte ich mir solche Mühe gemacht, ihnen aus dem Weg zu gehen? (Erschrocken erkannte ich, daß mein Trick, mich in Hauseingänge zu verdrücken,
nicht so unauffällig war, wie ich gedacht hatte.) Und weshalb hatte ich so getan, als merkte ich nicht, wie sehr sie mir von Anfang an entgegenkamen? Ich hatte geglaubt, sie seien von abweisender Arroganz, aber jetzt weiß ich, daß sie, höflich wie jüngferliche Tanten, nur darauf gewartet hatten, daß ich den nächsten Schritt täte.
Jedenfalls war dies das Wochenende, an dem sich alles zu ändern begann; von jetzt an werden die dunklen Lücken zwischen den Straßenlaternen kleiner und die Abstände zwischen ihnen größer - das erste Anzeichen dafür, daß der Zug sich vertrautem Territorium nähert und bald durch die bekannten, gutbeleuchteten Straßen der Stadt fahren wird. Das Haus war ihre Trumpfkarte, ihr liebster Schatz, und an diesem Wochenende offenbarten sie es mir geschickt, Stück für Stück – die schwindelerregenden kleinen Turmzimmer, den Dachboden mit seinen hochragenden Balken, den alten Schlitten im Keller, der groß genug war, um von vier schellenbehängten Pferden gezogen zu werden. Die Remise war jetzt die Wohnung des Hausmeisters. (»Das ist Mrs. Hatch da draußen im Garten. Sie ist reizend, aber ihr Mann ist Adventist des Siebenten Tages oder so was und sehr streng. Wir müssen alle Flaschen verstecken, wenn er ins Haus kommt.«
»Oder was?«
»Oder er bekommt Depressionen und fängt an, überall kleine Traktate liegenzulassen.«)
Am Nachmittag spazierten wir zum See hinunter, den sich mehrere benachbarte Anwesen diskret teilten. Unterwegs zeigten sie mir den Tennisplatz und das alte Sommerhaus, einen nachempfundenen tholos , dorisch nach Art von Pompeji und (sagte Francis, der für diese viktorianischen Bemühungen um Klassizismus nur Verachtung hatte) D. W. Griffith und Cecil B. De Mille. Es war aus Gips, sagte er, und als Bausatz von Sears Roebuck geliefert worden. Das Grundstück trug an manchen Stellen noch Spuren der adretten viktorianischen Geometrie, mit der es ursprünglich gestaltet gewesen war: leere Fischteiche, die langen weißen Kolonnaden skelettartiger Laubengänge, steingesäumte Beete, auf denen keine Blumen mehr wuchsen. Aber größtenteils waren diese Spuren verwischt: Hecken wucherten wild, und einheimische Bäume, Ulmen und Lärchen, überwogen die Quitten und Araukarien.
Der See war von Birken umstanden, hell und sehr still. Ins Schilf geschmiegt, lag ein kleines hölzernes Ruderboot, außen weiß und innen blau angestrichen.
»Können wir damit hinausfahren?« fragte ich entzückt.
»Natürlich. Aber nicht alle zusammen, sonst sinken wir.«
Ich hatte noch nie im Leben in einem Boot gesessen. Henry und Camilla fuhren mit mir – Henry an den Rudern, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, das dunkle Jackett neben sich auf dem Sitz. Er hatte, wie ich später entdecken sollte, die Angewohnheit, sich in gedankenverlorenen, didaktischen, absolut selbstgenügsamen Monologen zu verlieren, die sich um das drehten, was ihn gerade interessierte – die Katuvellauner, spätbyzantinische Malerei oder Kopfjägerei auf den Salomon-Inseln. An diesem Tag redete er über Elizabeth und Leicester, wie ich mich erinnere: die ermordete Ehefrau, die königliche Barke, die Königin auf einem Schimmel, wie sie zu den Truppen in Tilbury Fort spricht, während Leicester und der Graf von Essex das Zaumzeug halten ... Das Rauschen der Ruder und das hypnotische Brummen der
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