Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
glücklich da, wo du herkommst, wie?« sagte er.
Ich war verblüfft über diese detektivische Schlußfolgerung. Er lächelte über mein offensichtliches Unbehagen.
»Keine Angst. Du verbirgst es sehr geschickt«, sagte er und wandte sich wieder seinem Buch zu. Dann blickte er noch einmal auf. »Die anderen verstehen eigentlich nichts von diesen Dingen, weißt du.«
Er sagte es ohne Bosheit, ohne Mitgefühl, ja, weitgehend ohne Interesse. Ich wußte nicht einmal genau, was er meinte, aber zum ersten Mal sah ich einen Schimmer dessen, was ich bis dahin nicht verstanden hatte: weshalb die anderen ihn alle so gern hatten. Erwachsene Kinder (ein Oxymoron, ich weiß) neigen instinktiv zu den Extremen: Der junge Gelehrte ist sehr viel pedantischer als sein älteres Gegenstück. Und ich, selbst noch jung, nahm Henrys
Feststellungen sehr ernst. Ich bezweifle, daß Milton persönlich mich stärker hätte beeindrucken können.
Ich nehme an, es gibt eine bestimmte, entscheidende Zeitspanne im Leben eines jeden, in der sein Charakter für allezeit festgelegt wird; für mich war es jenes erste Herbstsemester, das ich in Hampden verbrachte. So vieles habe ich aus jener Zeit bis heute behalten; die alten Vorlieben für Kleidung und Bücher und sogar Speisen, die ich mir damals und, wie ich zugeben muß, in jünglingshafter Nachahmung der anderen in meinem Griechischkurs aneignete, haben sich im Laufe der Jahre bei mir erhalten. Es fällt mir noch heute leicht, mir in Erinnerung zu rufen, wie ihr Alltag, der in der Folgezeit auch der meine wurde, aussah. Ungeachtet der Umstände lebten sie wie ein Uhrwerk, mit überraschend wenig von jenem Chaos, das für mich immer ein natürlicher Bestandteil des Collegelebens gewesen war – unregelmäßige Essens- und Arbeitsgewohnheiten, Ausflüge zum Waschsalon um ein Uhr nachts. Zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten, selbst wenn die Welt einstürzte, fand man Henry im Tag und Nacht geöffneten Studienraum der Bibliothek, oder man wußte, daß es zwecklos sein würde, nach Bunny zu suchen, weil er bei seiner Mittwochsverabredung mit Marion oder auf seinem Sonntagsspaziergang war. (Ganz so, wie das Römische Reich sich in gewisser Weise selbst weiterführte, als längst niemand mehr da war, der es führte, und der Grund, der dahintergestanden hatte, restlos verschwunden war – ganz so blieb diese Routine selbst in den furchtbaren Tagen nach Bunnys Tod intakt. Bis ganz zum Schluß gab es immer, immer sonntagabends ein Essen bei Charles und Camilla, außer am Abend des Mordes selbst, als keiner besonders viel Appetit hatte und das Essen auf Montag verschoben wurde.)
Ich war überrascht, wie mühelos es ihnen gelang, mich in ihr zyklisches, byzantinisches Dasein einzubeziehen. Sie waren allesamt so sehr aneinander gewöhnt, daß sie mich, glaube ich, als Erfrischung empfanden, und sie waren noch von den profansten meiner Gewohnheiten fasziniert: von meiner Vorliebe für Kriminalromane und meiner chronischen Kinobesessenheit; von der Tatsache, daß ich Wegwerfrasierer aus dem Supermarkt benutzte und mir selbst die Haare schnitt, statt zum Friseur zu gehen; sogar von der Tatsache, daß ich Zeitung las und gelegentlich im Fernsehen die Nachrichten anschaute (eine Gewohnheit, die ihnen unerhört exzentrisch vorkam). Keiner von ihnen interessierte sich
einen Deut für das, was in der Welt vorging, und ihre Unkenntnis der aktuellen Ereignisse und auch der jüngeren Geschichte war ziemlich erstaunlich.
Als Gruppe waren sie immer noch überwältigend, und langsam lernte ich sie auch einzeln wirklich kennen. Weil er wußte, daß ich ebenfalls lange auf war, kam Henry manchmal spätabends auf dem Weg zur Bibliothek bei mir vorbei. Francis, der ein schrecklicher Hypochonder war und sich weigerte, allein zum Arzt zu gehen, schleppte mich häufig mit, und es geschah seltsamerweise auf einer dieser Fahrten – zum Allergologen in Manchester oder zu dem HNO-Arzt in Keene –, daß wir Freunde wurden. In diesem Herbst mußte er sich einer Wurzelbehandlung unterziehen, und das dauerte vier oder fünf Wochen; jeden Mittwochnachmittag tauchte er bleich und schweigsam in meinem Zimmer auf, und dann gingen wir zusammen in eine Bar in der Stadt und tranken dort bis zu seinem Termin um drei. Der vorgebliche Zweck meiner Begleitung bestand darin, daß ich ihn nach Hause fahren konnte, wenn er benebelt vom Lachgas herauskam, aber da ich in der Bar auf ihn wartete, während er in die Zahnarztpraxis ging, war
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