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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Libellen mischten sich mit seinem akademischen Monolog. Camilla ließ, erhitzt und schläfrig, die Hand ins Wasser hängen. Gelbe Birkenblätter wehten von den Bäumen und schwebten auf das Wasser herunter. Es war viele Jahre später und weit weg von dort, daß ich auf diese Stelle aus Das wüste Land stieß:
    Elizabeth und Leicester
    Schlagende Ruder
    Das Vorderschiff war
    Eine Muschel aus Gold
    Rot und Gold
    Der jähe Schwall
    Bespritzt beide Ufer
    Südwestwind
    Trug stromab
    Glockengeläut
    Weißes Getürm
    Weialala leia
    Wallala leilala
    Wir fuhren zum anderen Ufer des Sees hinüber; als wir wieder zurückkamen, halb geblendet vom Licht auf dem Wasser, fanden wir Bunny und Charles auf der vorderen Veranda. Sie aßen Schinkensandwiches und spielten Karten: »Go Fish«; es war das einzige Kartenspiel, das Bunny konnte.
     
    Am Sonntag wachte ich früh auf; es war still im Haus. Francis hatte meine Sachen Mrs. Hatch zum Waschen gegeben; ich zog einen Bademantel über, den er mir geliehen hatte, und ging nach unten, um ein paar Minuten auf der Veranda zu sitzen, ehe die anderen aufwachten.
    Draußen war es kühl und still; der Himmel war von jenem dunstigen Weiß, das man nur morgens im Herbst sieht, und die Korbstühle waren naß vom Tau. Die Hecken und die zahllosen Morgen Rasen waren von Spinnweben überzogen, die den Tau wie Perlschnüre sammelten, so daß er dort glitzerte wie Reif. Die Schwalben bereiteten sich auf die Reise nach Süden vor; sie flatterten unruhig unter den Dachrinnen, und aus der Nebeldecke, die über dem See lag, hörte ich den rauhen, einsamen Ruf der Stockenten.
    »Guten Morgen«, sagte eine kühle Stimme hinter mir.
    Erschrocken drehte ich mich um und sah Henry am anderen Ende der Veranda sitzen. Er trug kein Jackett, war aber ansonsten in Anbetracht der unchristlichen Stunde makellos gekleidet: Seine Hose hatte messerscharfe Bügelfalten, und sein weißes Hemd war frisch gestärlit. Auf dem Tisch vor ihm lagen Bücher und Papiere; daneben stand eine dampfende Espresso-Kanne mit einer kleinen Tasse, und in einem Aschenbecher glomm – zu meiner Überraschung - eine filterlose Zigarette.
    »Du bist früh auf«, sagte ich.
    »Ich stehe immer früh auf. Der Morgen ist für mich die beste Zeit zum Arbeiten.«
    Ich warf einen Blick auf die Bücher. »Was machst du? Griechisch?«
    Henry stellte die Tasse auf die Untertasse. »Eine Übersetzung von Paradise Lost .«
    »In welche Sprache?«
    »Latein«, sagte er feierlich.
    »Hmm«, sagte ich. »Wieso das?«
    »Es interessiert mich, zu sehen, was dabei herauskommt. Milton ist meiner Auffassung nach unser größter englischer Dichter, größer als Shakespeare, aber ich denke, in mancher Hinsicht war es unglückselig, daß er es vorzog, auf englisch zu schreiben. Natürlich hat er eine nicht unbeträchtliche Menge Gedichte auf lateinisch verfaßt – aber das war früh, in seiner Studentenzeit; worauf ich mich beziehe, ist sein späteres Werk. In Paradise Lost treibt er das Englische bis an seine äußersten Grenzen, aber ich denke,
keine Sprache ohne Substantivdeklination kann je die strukturelle Ordnung haben, die er ausdrücken will.« Er legte die Zigarette in den Aschenbecher, und ich beobachtete die Glut. »Möchtest du Kaffee?«
    »Nein, danke.«
    »Ich hoffe, du hast gut geschlafen.«
    »Ja, danke.«
    »Ich schlafe hier draußen besser als sonst«, sagte Henry, rückte seine Brille zurecht und beugte sich wieder über das Lexikon. Das Abfallen seiner Schultern gab einen subtilen Hinweis auf Erschöpfung und Anspannung, den ich als Veteran mancher schlaflosen Nacht sofort erkannte. Plötzlich wurde mir klar, daß diese sinnlose Arbeit wahrscheinlich nichts weiter war als eine Methode, sich die frühen Morgenstunden zu vertreiben, ganz wie andere von der Schlaflosigkeit Geplagte Kreuzworträtsel lösen.
    »Bist du denn immer so früh auf?« fragte ich ihn.
    »Fast immer«, antwortete er, ohne aufzublicken. »Es ist schön hier – aber das Morgenlicht kann noch die vulgärsten Dinge erträglich machen.«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte ich, und ich wußte es wirklich. Praktisch die einzige Tageszeit, die ich in Plano hatte ertragen können, war der ganz frühe Morgen gewesen, das Morgengrauen fast, wenn die Straßen leer waren und das Licht golden und gütig auf dem dürren Gras, den Maschendrahtzäunen, den einsamen Buscheichen lag.
    Henry hob den Kopf von seinen Büchern und sah mich beinahe neugierig an. »Du bist nicht sehr

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