Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
vor.
Am Montagmorgen konnte ich endlich gehen – mit einem Röhrchen Antibiotika und einem Arm voller Nadelstiche. Sie bestanden darauf, mich im Rollstuhl zu Henrys Wagen zu schieben, obwohl ich durchaus in der Lage war, allein zu gehen, und es höchst demütigend fand, wie ein Paket hinausgerollt zu werden.
»Bring mich ins Catamount Motel«, sagte ich, als wir nach Hampden kamen.
»Nein«, sagte er. »Du wohnst bei mir.«
Henry wohnte im Erdgeschoß eines alten Hauses in der Water Street in North Hampden, einen Block weit von Charles und Camilla entfernt, aber näher beim Fluß. Er hatte nicht gern Leute bei sich, und ich war nur einmal dort gewesen, und da auch nur für
ein oder zwei Minuten. Seine Wohnung war viel größer als die von Charles und Camilla und sehr viel spartanischer. Die Zimmer waren geräumig und anonym; die Fußböden waren aus breiten Holzdielen, an den Fenstern waren keine Gardinen, und die verputzten Wände waren weiß gestrichen. Die Möbel waren von erkennbar guter Qualität, aber verschrammt und schlicht, und es waren auch nicht viele. Die ganze Wohnung hatte etwas Gespenstisches, Unbewohntes, und einige Zimmer waren völlig leer. Von den Zwillingen hatte ich gehört, daß Henry kein elektrisches Licht mochte, und hier und dort sah ich Kerosinlampen auf den Fensterbänken.
Sein Schlafzimmer, das ich jetzt bekommen sollte, war bei meinem letzten Besuch ziemlich demonstrativ verschlossen gewesen. Darin befanden sich Henrys Bücher – nicht so viele, wie man vielleicht denken möchte –, ein einzelnes Bett und sehr wenig anderes, abgesehen von einem Wandschrank mit einem großen, auffälligen Vorhängeschloß. An der Schranktür hing mit Heftzwekken befestigt ein Schwarzweißfoto aus einer alten Illustrierten – LIFE, stand darauf, 1945. Es zeigte Vivien Leigh und, zu meiner Überraschung, einen sehr viel jüngeren Julian Morrow. Sie waren auf einer Cocktailparty und hielten Gläser in den Händen; er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie lachte.
»Wo wurde das aufgenommen?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht. Julian sagt, er erinnert sich nicht. Hin und wieder stößt man in alten Zeitschriften auf ein Foto von ihm.«
»Warum?«
»Er kannte früher eine Menge Leute.«
»Wen?«
»Die meisten sind inzwischen tot.«
»Wen ?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Richard.« Dann, nachgiebiger: »Ich habe Bilder von ihm mit den Sitwells gesehen. Und mit T. S. Eliot. Oder ... da gibt’s ein ziemlich komisches mit dieser Schauspielerin – ich habe ihren Namen vergessen –; sie ist inzwischen gestorben.« Er überlegte kurz. »Sie war blond«, sagte er dann. »Ich glaube, sie war mit einem Baseballspieler verheiratet.«
»Marilyn Mon roe ?«
»Kann sein. Es war kein besonders gutes Bild. Nur ein Zeitungsfoto.«
Irgendwann in den vergangenen drei Tagen war Henry hinübergefahren und hatte meine Sachen bei Leo abgeholt. Meine Koffer standen am Fußende des Bettes.
»Ich will dir dein Bett nicht wegnehmen, Henry«, sagte ich. »Wo schläfst du denn?«
»In einem der hinteren Zimmer ist ein Bett, das sich aus der Wand herunterklappen läßt«, sagte Henry. »Ich komme nicht drauf, wie so was heißt. Ich habe bisher nie drin geschlafen.«
»Warum läßt du mich dann nicht dort schlafen?«
»Nein. Ich bin ziemlich neugierig darauf, zu erfahren, wie es ist. Außerdem ist es gut, den Schlafplatz von Zeit zu Zeit zu wechseln. Ich glaube, man hat dann interessantere Träume.«
Ich hatte vor, nur ein paar Tage bei Henry zu verbringen – am folgenden Montag erschien ich wieder zur Arbeit bei Dr. Roland –, aber am Ende blieb ich, bis die Schule wieder anfing. Ich begriff nicht, weshalb Bunny gesagt hatte, es sei schwer, mit Henry auszukommen. Er war der beste Wohnungsgenosse, den ich je gehabt hatte, ruhig und ordentlich und meistens irgendwo in einen abgelegenen Teil der Wohnung zurückgezogen. Oft war er gar nicht da, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam; er sagte mir nie, wohin er ging, und ich fragte nicht. Aber manchmal, wenn ich nach Hause kam, hatte er Abendessen gemacht – er war kein Feinschmeckerkoch wie Francis und bereitete nur einfache Sachen zu, Brathuhn und Baked Potatoes, Junggesellenkost –, und dann saßen wir am Klapptisch in der Küche und aßen und redeten.
Ich hatte inzwischen gelernt, daß es besser war, die Nase nicht in seine Angelegenheiten zu stecken, aber eines Abends, von Neugier übermannt, fragte ich ihn doch: »Ist Bunny noch in
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